© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Festwochen: Ein Vergleich zwischen Wien und Berlin
Traditionen und Perspektiven
Hans-Jörg von Jena

Sind sie noch zeitgemäß? Diese Frage, noch vor wenigen Jahren vehement gestellt, ist gegenwärtig fast verstummt. Unangefochten regieren die Berliner Festwochen den Kultur-Herbst der Hauptstadt. Ihre Finanzierung scheint durch Bund und Land auf absehbare Zeit gesichert. Und ein Publikumserfolg sind sie allemal. Gewiß gibt es auch Konzerte vor schwach besetzten Reihen. Aber das ist vor allem auf die gut begründete Fülle des Angebots zurückzuführen. Bei Festwochen gehört eben auch das Seltene, Vergessene, Ungewohnte oder ganz Neue legitimerweise ins Programm.

Die Berliner Festwochen waren eine Erfindung Ernst Reuters. Nach dem Ende der unmittelbaren Bedrohung durch die Blockade wollte der Mann des "Schaut auf diese Stadt!" den Blick auf die kulturelle Substanz West-Berlins lenken, wie sie sich in Theaterpremien und Konzerten, in Museen und Austellungen noch immer reichhaltig präsentierte. Das gelang vom ersten Jahr (1951) an. Daß die DDR sich seit den sechziger Jahren zu einem Konkurrenz-Festival "Berliner Festtage" veranlaßt sah, bestätigte den Erfolg. Die Festtage verschwanden mit der Wiedervereinigung der Stadt. Die Festwochen jedoch blieben, und das zu Recht: Sie waren mehr als ein Kampfprodukt des Kalten Krieges, mehr als nur ein Ausstellungsstück im Schaufenster des Westens. Schon in den zwanzigerJahren hatte es Vergleichbares in Berlin gegeben. Auch bündelt beispielsweise Wien seine kulturellen Aktivitäten alljährlich zu Festwochen – nur finden sie nicht zum Anfang, sondern jeweils zum Ende der Spielzeit (Mai/Juni) statt.

Wien war – nach Prag, Warschau und Moskau in früheren Jahren – das beherrschende Thema der Berliner Festwochen im Herbst 1998. Die Unterschiede zwischen den beiden geschichtlichen Hauptstädten der Deutschen liegen auf der Hand. Diesmal rückten eher ihre Gemeinsamkeiten und Parallelen ins Blickfeld. Kulturzentren waren und sind beide: die Kaiserstadt seit eh und je, Berlin dank Preußens kometenhaftem Aufstieg. Aber beide gerieten im 20. Jahrhundert in ähnlicher Weise in eine Randlage – und noch ist ungewiß, welche Energien sie im werdenden neuen Europa auf sich ziehen, welche sie ausstrahlen können.

In der Musik allerdings hat Wien die führende Position. Und das nicht nur über Berlin, sondern über jede andere Stadt der Welt. In einem "Musikpanorama Wien 1750 – 1950" begegnet man der Musik schlechthin. Der schöpferischen Phalanx vom klassischen Dreigestirn Haydn-Mozart-Beethoven über Schubert, Brahms, Bruckner und Mahler bis zu Schönberg oder Schrekeer kann Berlin – abgesehen von dem einen Mendelssohn, den es nach Leipzig vergraulte – keinen Lokalheros mit Weltruhm entgegenstellen. Nur mit seinem immer regen Musikbetrieb lag es bald nach der Reichsgründung 1871 gleichauf. Er veranlaßte so manche Wiener Musiker, in Berlin ihr Glück zu suchen. Die Querverbindungen reichen von der "Fledermaus" (die sich erst von Berlin aus durchsetzte) über Schönberg bis in die Gegenwart.

Unangestrengt, aber übersichtlich entrollten die Festwochen das Panorama. Nicht weniger als zehn Zyklen sorgten für Struktur. Alle elf Bruckner-Symphonien (einschließlich der "Nullten" und der frühen "Studiensymphonie") waren zu hören, sämtliche 18 Streichquartette Beethovens, Kammermusikzyklen von Mozart bis Alban Berg. Zu den wertvollen Raritäten zählte das Quartett- und Orchesterschaffen des Liedmeisters Hugo Wolf, ebenso der ausführliche Einblick in das kammermusikalische Werk Alexander von Zemlinskys. Der spektakulärste Fall einer Wiederentdeckung: Hans Rott, der 1884, erst 26 Jahre alt, in tiefster Depression starb. Sein Streichquartett, seine Symphonie dokumentieren Weltekel und Verzweiflung einer Generation.

Wien bedeutet immer auch fin de siècle, den Reiz des Mürben, des Verfalls. Wiederholt sich das nun Ende unseres Jahrhunderts zwar nicht unter der stolzen Last der Tradition, sondern unter dem Vorzeichen der Existenzangst? Wenn ja – und einiges spricht dafür –, dann im Gewand der Grobheit und des Unflats. Die Theaterstücke Walter Bauers und des frühverstorbenen Werner Schwab haben Beispiele dafür gegeben, in denen sich Trauer, Groteske und unwiderstehliche Komik mischten. Weit verbissener und anklägerischer präsentieren sich die Theatertexte der jungen Wilden, die gegenwärtig in erstaunlich großer Zahl den Weg von England auf den Kontinent finden. Unter dem Titel "The next generation" machten die Festwochen mit einigen von ihnen bekannt. Hier wird durchweg der Mensch vom Gürtel abwärts seziert, die Gesellschaft unter dem Aspekt von Abartigkeit, Verbrechen und Verkommenheit geschildert. Hochbegabt oft (wie es ja schon bei den britischen Importen in der Baracke des Deutschen Theaters unter dem schnell berühmt gewordenen Thomas Ostermeier zu sehen war) in ihrer Mischung von Wut und Melancholie, und doch am Ende eintönig. Wer wollte bestreiten, daß Prolo-Schmutz, Obszönität und das Gefühl der Sinnlosigkeit nicht eben abgenommen haben in diesen Jahren! Ist trotzdem der Hinweis erlaubt, daß es immer noch, immer auch den Menschen oberhalb der Gürtellinie gibt?


 
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