© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Wandel einer Partei: Von der radikaldemokratischen Öko-Partei zum Kanzlerwahlverein
Marathon zur Macht
Michael Wiesberg

Der Spiegel zitierte Anfang März 1995 den damaligen grünen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Joseph "Joschka" Fischer, mit den Worten: "Wir werden das Land regieren." So ist es gekommen. Daß auf der Zielgeraden die einst formulierten Prinzipien nicht mehr so genau genommen wurden, wer will es den Bündnisgrünen verdenken? Wenn sie jetzt nicht auf Bundesebene nach der Macht greifen, werden sie wohl kaum mehr eine Chance erhalten. Selbst die Trennung von Amt und Mandat – jahrelang eine, wenn nicht die "heilige Kuh" bündnisgrüner Politik – wurde ausgesetzt.

Die Bündnisgrünen haben damit konsequent umgesetzt, was sich die Partei nach ihrer Vereinigung mit dem "Bündnis 90" in ihrer "Leipziger Erklärung" 1993 vorgenommen hat: "Ein ausbalanciertes und unverkrampftes Verhältnis zur Macht." Was damit konkret gemeint ist, beschrieb Fischer in einem Interview Ende November 1996: Wer in Deutschland "nach 1998 mitregieren" wolle, "der muß die Realitäten zur Grundlage seiner Reform- und Friedenspolitik machten. Sonst wird er grauenhaft scheitern im Regierungsfall."

Sind also die Bündnisgrünen inzwischen eine ganz normale Partei? Hat sich Joschka Fischer, der ehemalige Aktivist der Frankfurter Sponti-Szene, deren Mitglieder der damalige Frankfurter Bürgermeister Arndt (SPD) einmal als "faschistische Chaoten" charakterisierte, die "schlimmer" seien als die "SA und die SS in der Nazizeit", wirklich zum unideologischen "Pragmatiker" gewandelt?

"Pragmatismus" meint im Kern ja nichts anderes als die Aufgabe politischer Grundsätze zugunsten einer "flexiblen Machtpolitik". Mit dem, wofür die Bündnisgrünen einmal angetreten sind, hat jedenfalls die politische Linie eines Joschka Fischer nicht mehr viel zu tun. Nur ein Beispiel: Es ist sagenhaft, wie eilig es Fischer hatte, zusammen mit Schröder bei Clinton, Präsident der einst als "imperialistisch" gebrandmarkten USA, seine Ergebenheitsadresse zu hinterlassen. Die USA sind heute keinen Deut weniger "imperialistisch" als in den sechziger und siebziger Jahren. Allenfalls ihre Methoden sind "subtiler" geworden. Dennoch verkündet Fischer, daß sich die Außenpolitik der Bundesrepublik nicht ändern werde. Deutschland wird auch unter einem Außenminister Fischer weiterhin auf ein Mindestmaß an politischer Eigenständigkeit verzichten. Es ist kaum zu erwarten, daß er in der Europapolitik Akzente setzen wird, obwohl es hier immer wieder kritische grüne Stimmen gab. So Krista Sager, Wissenschaftssenatorin in Hamburg, die in der Zeit 1995 erklärte, sie sei "sehr skeptisch", "bei jedem Gedanken an einen europäischen Einheitsstaat- oder Bundesstaat. Ich frage mich, ob wir mit unserer multikulturellen Vision – hochgerechnet auf einen solchen Bundesstaat – nicht die Gefahren verkennen, die in den großen kulturellen Unterschieden liegen".

Derartige nachdenkliche Erwägungen passen nicht zur "flexiblen Machtpolitik" à la Fischer. Statt dessen schicken sich die Bündnisgrünen an, eine SPD-Politik zu unterstützen, die der "Globalisierung" mit Rezepten der sechziger und siebziger Jahre begegnen will. Keine Rede mehr davon, was einer der wenigen Bündnisgrünen aus dem Osten, Werner Schulz, einmal feststellte: "Ich stoße auf eine Sozialdemokratie mit enormen Defiziten und Verkrustungen. Alles soll so weitergehen wie gehabt", als habe "es den Zusammenbruch im Osten nicht gegeben". Genau mit dieser Sozialdemokratie, die dort anknüpfen will, wo der letzte SPD-Kanzler Schmidt, aufgehört hat, gehen sie jetzt eine Koalition ein.

Fischer und seine ehemaligen Mitstreiter aus der Frankfurter Sponti-Szene sind es, die von der "Realpolitik" der Bündnisgrünen profitieren und profitiert haben. Der Ex-Titanic-Autor Christian Schmidt hat in seiner jüngst erschienenen Fischer-Biographie deutlich gemacht, daß Fischer seine Klientel nach dem Motto "Die Kader entscheiden alles" gezielt in Schlüsselstellungen gehievt hat. Dabei ging es Fischer und den Seinen – so Schmidt – nicht um politische Ziele, sondern vorrangig um persönliche Macht. Im Angesicht der Macht fressen die Bündnisgrünen Kreide ohne Ende.

Der Flexibilität der Partei entspricht auch die ihrer Klientel. Diese wurde einmal als "urbane, ideologisch nicht festgelegte, im Wohlstand lebende Wählerschaft des jüngeren und mittleren Alters" (FAZ) beschrieben. Deshalb sind die Bündnisgrünen im Grunde eine westdeutsche Partei geblieben. In Mitteldeutschland fehlen die materiellen und kulturellen Grundlagen für die "postmoderne Befindlichkeit" der Bündnisgrünen. Sie sind und bleiben damit ein Ausdruck der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen