© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Christoph Hein
Sensibler Chronist
Oliver Geldszus

Die Nachricht, Christoph Hein solle am kommenden Wochenende in Dresden zum ersten gesamtdeutschen PEN-Präsidenten gewählt werden, rückte den eher öffentlichkeitsscheuen sensiblen Romancier und Bühnenautor ins ungeliebte Rampenlicht des allgemeinen Interesses. Der frisch gekürte Peter-Weiss-Preisträger, den der Focus einmal als den "vielleicht besten Autor seiner Generation" bezeichnet hatte, würde damit die Nachfolge von Conrady (West) und Tragelehn (Ost) antreten.

Geboren im schlesischen Heinzendorf als Sohn des protestantischen Dorfpfarrers und aufgewachsen im sächsischen Bad Düben, avancierte Hein nach seinem Philosophie- und Logikstudium in Leipzig und Berlin allmählich zu einer festen literarischen Größe in der DDR. Im Zuge seiner Assistententätigkeit an der Berliner Volksbühne zählte er ab 1973 neben Heiner Müller zu ihren Hausautoren. Sechs Jahre später zog er sich als freischaffender Autor zurück und erlebte in den achtziger Jahren seine produktivste Zeit, die seinen internationalen Ruf begründete. Insbesondere mit der Novelle "Der fremde Freund" (1982) – in der Bundesrepublik unter dem Titel "Drachenblut" ein Jahr später erschienen – gelang ihm der Durchbruch. Hier klang erstmals auch in dieser Form das für Hein typische Sujet: Gefühlskälte, Heimatlosigkeit, seelische Deformierungen innerhalb der modernen Industriegesellschaften, an. Entsprechend sieht er sich eigenen Aussagen zufolge selbst als neutraler Chronist in der rationalen Tradition der Aufklärung, der mit stilistischen Mitteln die Gegenwart beleuchtet.

Dennoch hat das wiedervereinigte Deutschland in ihm bislang noch nicht seinen Autor gefunden; nach wie vor tut sich Hein offensichtlich schwer mit der neudeutschen Wirklichkeit. Eine Ausnahme bildet lediglich die Tragikkomödie "Randow" (1994), die nüchtern die neuen Verhältnisse widerspiegelt. Noch immer haftet sein kritischer Blick vergleichsweise liebevoll auf der alten DDR. Im vorigen Jahr veröffentlichte er nach längerer Pause die Kindheitserzählung "Von allem Anfang an" – ein melancholischer Rückblick auf die eigene Jugend und die ersten künstlerischen Versuche, reflektiert aus der Sicht eines Dreizehnjährigen. Im Gegensatz zu seinem westdeutschen Kollegen Walser war Christoph Hein nie an einer Wiedervereinigung interessiert; das prädestinierte den Mitherausgeber der linken Wochenzeitung Freitag geradezu als Symbolfigur der ehemaligen DDR-Intellektuellen. So hielt er auch in seiner Rede während der Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 an der Idee einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR fest. Nach 1990 zog er sich mit seiner Familie in die mecklenburgische Provinz zurück und trat lediglich sporadisch ("Das Napoleon-Spiel", 1993) literarisch in Erscheinung.


 
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