© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Parteien: Die FDP in der Opposition – Erinnerungen und Überlegungen eines Zeitzeugen
Mangel an emotionaler Kompetenz
Detlef Kühn

Nach der Bundestagswahl am 27. September konnte man in den Zeitungen lesen, in der FDP-Führung in Bonn sei man nicht nur erleichtert über den Wiedereinzug der Partei in den Deutschen Bundestag, sondern auch darüber, daß man jetzt die Rolle der Opposition ausfüllen könne. Nun, wo man nicht mehr auf einen übermächtigen Koalitionspartner Rücksicht zu nehmen brauche, freue man sich auf eine "putzmuntere" Opposition. Als "konsequenteste Fortschrittspartei" werde man die Belange der Steuerzahler und Verbraucher "flexibel" vertreten.

Die Freude der Bonner Parteiführung auf die Möglichkeiten der Opposition läßt die Gedanken zurückwandern in die Zeiten, als die FDP – eigentlich immer gegen ihren Willen – schon früher gezwungen war, sich mit dieser Rolle auf Bundesebene zu begnügen. Dies war zum ersten Mal in den Jahren 1956 bis 1961 der Fall, nach der Abspaltung der Freien Volkspartei (FVP), und endete mit dem größten Wahlerfolg, den die FDP auf Bundesebene jemals erzielen konnte. 1961, unmittelbar nach der Errichtung der Mauer in Berlin, erreichte die FDP vor allem wegen ihrer Deutschlandpolitik und auf der Grundlage eines erheblichen Mißtrauens der Wähler gegenüber dem seit 12 Jahren amtierenden Bundeskanzler Konrad Adenauer 12,8 Prozent der Zweitstimmen. Sie bildete danach unter Adenauer mit der CDU/CSU erneut eine Koalitionsregierung, was ihr die Bezeichnung "Umfallerpartei" eintrug, unter der sie manchmal noch heute zu leiden hat.

Über die Oppositionsrolle herrschte keine Euphorie

Die zweite Oppositionszeit im Bund, die ich aus eigenem Erleben beurteilen kann, umfaßte drei Jahre vom Herbst 1966 bis zur Bundestagswahl 1969. Die seit 1963 amtierende Regierung unter Bundeskanzler Ludwig Erhard war an steuerrechtlichen Problemen gescheitert, vor allem aber daran, daß der Kanzler in seiner eigenen Partei nicht genügend Rückhalt hatte. In letzter Minute unternommene Versuche, eine Koalition von SPD und FDP, die rechnerisch möglich gewesen wäre, zustandezubringen, scheiterten vor allem am mangelnden Mut der Sozialdemokraten, die unter ihrem "Zuchtmeister" Herbert Wehner eine Große Koalition mit der CDU/CSU unter dem Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger vorzogen. Die FDP sah sich ziemlich unvermittelt in das kalte Wasser der Oppostion geworfen und gezwungen, aus dieser ungeliebten Rolle das Bestmögliche zu machen.

Die Voraussetzungen hierfür waren gar nicht so schlecht. Mit 49 von 496 stimmberechtigten Mitgliedern des Bundestages, zu denen noch ein nur eingeschränkt stimmberechtigter West-Berliner Abgeordneter kam, hatte die FDP entsprechend ihrem Stimmenanteil bei der Bundestagswahl 1965 nahezu 10 Prozent der Abgeordnetensitze inne. Und sie war die einzige Oppositionspartei. Als solche war ihr eine entsprechende Beachtung durch die Journalisten sicher, die häufig der Großen Koalition gegenüber skeptisch eingestellt waren. Sie verfügte in den Bundesländern über eine annähernd flächendeckende politische und organisatorische Basis. Die Vorsitzenden der Fraktionen im Bundestag und in den Landtagen, die sich regelmäßig trafen und politisch abstimmten, benötigten für gemeinsame Fahrten einen kleinen Bus – heute kommen sie in einem Taxi unter.

Weder in der Partei noch in der Fraktion herrschte damals Euphorie über die neue Rolle. Von Zuarbeit durch den Regierungsapparat war man plötzlich abgeschnitten. Die Fraktion verfügte nur über sieben, acht Mitarbeiter des höheren Dienstes. Assistenten für Abgeordnete gab es damals nur, wenn die Volksvertreter in der Lage waren, sie aus eigener Tasche zu bezahlen. Die Abgeordneten, die nicht selten neben der Ausübung ihres Mandats noch einem Beruf nachgingen, konnten nicht überall präsent sein. Die FDP-Fraktion schaffte es nicht immer, all die öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wahrzunehmen, zu denen sie eingeladen wurde.

Dennoch gelang es den Liberalen wenigstens in Teilbereichen, praktisch aus dem Stand heraus eine relativ konstruktive Oppostionspolitik aufzubauen. Dies galt zum Beispiel für die Verteidigungspolitik, da die FDP vor dem Hintergrund ihrer national-liberalen Tradition damals in der verhältnismäßig jungen Bundeswehr noch recht gut verankert war. Mit dem Entwurf eines Generalvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR gelang dies auch in der Deutschlandpolitik, wo die Möglichkeit bestand, angesichts erheblicher Meinungsverschiedenheiten zwischen SPD und CDU gelegentlich sogar kleine Keile in die scheinbar so einige Große Koalition zu treiben. Auch in der Innenpolitik, die von der Frage einer Änderung des Wahlrechts zugunsten einer reinen Mehrheitswahl nach englischem Vorbild beherrscht wurde, was das Ende der FDP und jeder anderen kleineren Partei bedeutet hätte, konnte sich die FDP durchaus erfolgreich verteidigen und sogar eine emotionale Unterstützung über ihre engere Anhängerschaft hinaus mobilisieren. Dies gelang schon weniger bei den Auseinandersetzungen über die Notstandsgesetze, wo sich die FDP, trotz rechtsstaatlicher Argumente, leicht in der Gesellschaft linksradikaler, außerparlamentarischer Oppositionsgruppen wiederfand.

Rückschauend muß man auch heute noch feststellen, daß die Oppositionspolitik der FDP in diesen drei Jahren trotz enormer Schwierigkeiten durchaus die Bezeichnung "putzmunter" für sich in Anspruch nehmen konnte. Obwohl dies auch in den Medien häufig so gesehen und entsprechend gewürdigt wurde, konnten alle Mühen und Plagen doch nicht verhindern, daß die Liberalen bei der Bundestagswahl 1969 von 9,5 Prozent auf 5,8 Prozent der Wählerstimmen abstürzten. Der Hauptgrund hierfür war, daß die Große Koalition schon vor dem Ende der Legislaturperiode praktisch zerbrach, und zwar an einer Frage, die den gesamten Wahlkampf überschattete, nämlich der, ob die Deutsche Mark aufgewertet werden solle oder nicht. In dieser Frage, die man eigentlich nur mit ja oder nein beantworten konnte, gelang es der FDP nicht, eine einleuchtende eigenständige Position gegenüber den miteinander streitenden Regierungsparteien einzunehmen. Sie konnte sich nicht mehr als der sympathische David gegen den Goliath der Großen Koalition in Stellung bringen. So spielte sie in der Schlußphase des Wahlkampfes praktisch keine nennenswerte Rolle mehr und mußte am Ende froh sein, daß sie überhaupt noch parlamentarisch überlebte. Die Regeneration gelang dann erst in den siebziger Jahren im Rahmen der sozial-liberalen Koalition, wo die FDP in der Deutschlandpolitik wieder an ihren Erfolg von 1961 anknüpfen konnte, aber dennoch durch prononcierte links-liberale Positionen viele alte Stammwähler verlor.

Wie die Partei schrittweise ihre Stammwähler verlor

Vergleicht man die Situation Ende der 60er Jahre mit der Oppositionsrolle, die die FDP jetzt übernehmen muß, so drängen sich Parallelen, aber auch erhebliche Unterschiede auf. Auch diesmal hätte die FDP eigentlich gern weiter mitregiert. Aber damit sind die Gemeinsamkeiten der heutigen Situation und der vor 30 Jahren schon fast erschöpft. Schaut man genauer hin, so stellt man schnell fest, daß die Situation jetzt in vielerlei Beziehung viel komplizierter ist.

Die Fraktion ist noch kleiner, als sie es damals war (nur noch 43 von insgesamt 669 Abgeordneten). Die Schwierigkeit, überall präsent zu sein, wo man eigentlich Flagge zeigen müßte, wird also noch größer. Zwar ist der Apparat der Bundestagsfraktion inzwischen, wie auch bei den anderen Fraktionen, gewachsen. Jeder Abgeordnete hat jetzt seinen Assistenten, die Fraktion insgesamt wesentlich mehr hauptamtliche Kräfte. Sie wird es dennoch schwerer haben, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, weil sie nicht mehr die einzige Oppositionspartei im Bundestag ist, sondern stets Gefahr läuft, neben der 245 Abgeordnete starken Unionsfraktion auf der rechten Seite und den immerhin 36 linksradikalen Abgeordneten der PDS, die auch Fraktionsstärke haben, ins Hintertreffen zu geraten. Unterstützung von der Basis ist kaum noch zu erwarten. Die FDP ist nur noch in 4 von 16 Landtagen vertreten.

Eine nennenswerte kommunalpolitische Basis besitzt sie nur noch in wenigen Teilen Deutschlands, und vor allem im Osten besteht die konkrete Gefahr, daß die erfolgreichen Kommunalpolitiker in Zukunft lieber unter der Flagge freier Wählergemeinschaften antreten. Der selbstgewählte Schwerpunkt Bildungspolitik bietet mangels Kompetenzen auf Bundesebene nur wenige Angriffsmöglichkeiten und kaum die Chance zur emotionalen Mobilisierung größerer Wählermengen. In der Sozialpolitik, Finanzpolitik, Ausländerpolitik, Sicherheitspolitik sowie bei der Bewältigung der Folgen des Euro läuft die FDP immer Gefahr, mit den Fehlern und Versäumnissen der vergangenen 16 Jahre identifiziert zu werden, was natürlich die eigene Angriffsfähigkeit nicht gerade erhöht.

Entscheidend für eine halbwegs erfolgreiche Oppositionspolitik der FDP dürfte sein, ob es ihr gelingt, neben der Besetzung bestimmter Sachthemen auch die emotionale Kraft ihrer politischen Aussagen zu stärken. Entgegen einer vor allem in der Parteiführung verbreiteten Auffassung genügt es nicht, nur eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik anzubieten. Der Mensch lebt halt auch politisch nicht vom Brot allein! Auch die Gefühlslagen der Wähler müssen beachtet werden. Als, wie angekündigt, "radikale Mitte im Parlament", ein Platz, der auch von den großen Volksparteien hart umkämpft ist, wird dies der FDP kaum gelingen. Die Themen, die die Wähler wirklich emotional bewegen, die innere und äußere Sicherheitspolitik, die Ausländerpolitik (wollen und können wir auch weiterhin Jahr für Jahr Hunderttausende von Ausländern aufnehmen, die wir nicht brauchen?), die entschlossene Vertretung nationaler Interessen im sich erweiternden Europa, die kritische Begleitung der gegen den Willen des Volkes eingeführten Währungsunion mit dem Euro, sind alle entweder tabuisiert oder stehen gar unter Faschismusverdacht. Die FDP hat hier offenkundig Beißhemmungen. Leider wird es wohl eher dem rechten Flügel der Union unter Führung der CSU oder gar der PDS gelingen, die einschlägigen Themen in der Öffentlichkeit zu besetzen.

Es dürfte wenig Sinn haben, wenn die FDP versucht, der Union im Bereich der Mitte Wähler abspenstig zu machen oder auf eklatante und offenkundige Fehler der Sozialdemokratie zu hoffen. Schon seit langem wundern sich Unionspolitiker, warum die FDP das nationalliberale Potential unter den Wählern so vernachlässigt. Es dürfte deutlich über zehn Prozent liegen und ist derzeit politisch weitgehend heimatlos. Die Union ist von ihrer Struktur her unfähig, diese Klientel dauerhaft an sich zu binden. Hier und wohl nur hier bietet sich der FDP die Chance, eine rationale Sachpolitik mit der unumgänglich notwendigen emotionalen Komponente zu verbinden. Die Frage ist nur, ob die derzeitige Bundestagsfraktion in der Lage ist, diese Chance rechtzeitig zu erkennen und in parlamentarische Initiativen umzusetzen. Für die Angehörigen des linksliberalen Freiburger Kreises in der Fraktion ist diese Frage sicherlich zu verneinen. Dieser Kreis ist aber wohl nicht allzu stark. Viele der neuen unter den nur noch 43 Abgeordneten sind ideologisch nicht festgelegt. So bleibt zu hoffen, daß sie in ihrer Oppositionsrolle wirklich nach den Chancen für einen Neuanfang suchen und diese dann beherzt ergreifen. Sonst könnte die nächste Bundestagswahl das Ende der liberalen FDP bringen.

 

Detlef Kühn, Jahrgang 1936, war von 1966 bis 1970 wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion und als Geschäftsführer des Arbeitskreises für Fragen der Außen-, Deutschland- und Verteidigungspolitik zuständig. Von 1972 bis 1991 war er Präsident des Gesamtdeutschen Instituts. Seit 1992 ist er Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien in Dresden.


 
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