© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
CD: Pop
Obst und Gemüse
Peter Boßdorf

Die Wahrheit über die DDR liegt wahrscheinlich nicht bei der Gauck-Behörde. Sich das Nordrhein-Westfalen des Ostens als ein umzäuntes Areal vorzustellen, in dem die Menschen ständig darauf warteten, zu Verhören vorgeladen zu werden, pausenlos auf Kirchentagen Heimlichkeiten sangen oder unentwegt mit dem Fesselballon in den Westen rübermachen wollten, ist wohl unangebracht, sonst wären die Einrichtungen nicht so wohlig gewesen, sonst würde es auch nicht so vielen nach mehr gelüsten. Das Duo IFA Wartburg dagegen hat vermutlich die Wahrheit auf seiner Seite, wenn es auf seiner CD "Im Dienste des Sozialismus" (Plattenmeister/Indigo) gar viele der Selbstverständlichkeiten Revue passieren läßt, die auf dem langen Weg von der Ostzone zum Beitrittsgebiet so prägend für die Menschen dort waren, daß man sie ihnen noch heute ansieht.

Wie kommen die beiden jungen Herren, die in ihrem bürgerlichen Leben angeblich Magnus Michaeli und Nils Lunwall heißen und noch dazu Schweden sein sollen, auf die Idee, mit unvorstellbarer Grausamkeit all das ans Licht zu zerren, was im Namen der inneren Einheit und des guten Geschmacks der öffentlichen Vergessenheit überantwortet schien? Es ist nicht gänzlich auszuschließen, daß es sich um einen Fall von Wahrheitsfanatismus handelt: So euphorisch, so schmissig, so unentschlossen angelehnt an den Pop der Zeit und so einfach in der Entwicklung der Gedanken und der Bekundung von Assoziationen wurde die Freie Deutsche Jugend tatsächlich besungen, als alle mitsingen konnten. So treuherzig, so trotzig und so entschlossen die Sprachwelten des im West-Fernsehen beworbenen Tourismus paraphrasierend stürzten sich viele tatsächlich auf ihre Urlaubsparadiese, deren Namen eher nach Internierungslagern oder Frontabschnitten klangen. So überbordend entlud sich tatsächlich der Stolz über die eigenen Errungenschaften, wenn es denn einmal Anlaß gab, stolz zu sein, wenn ausnahmsweise ein Stein auf dem anderen blieb, eine Straße ohne Schlaglöcher gebaut wurde oder ein Denkmal nicht vom ersten Regenguß fortgespült wurde. So gnadenlos ost-orientiert war der Osten wohl tatsächlich, wie auch der Westen gnadenlos west-orientiert war: So etwas schlägt aufs Gemüt und vermittelt auch dem Verzagten das Gefühl, mit wenig Aufwand am Irrsinn seiner Epoche teilhaben zu können. Da ist es von eminenter Bedeutung für das Gelingen des Vorhabens von IFA Wartburg, daß hie und da ein fremdländischer Akzent die Annahme (West) nährt, es singe Mister Pumpernickel, daß gelungene Fehlgriffe in Wortwahl und Satzbau die ganze Komik des DDR-Projekts auf den Punkt bringen. Besser hätte man es nicht bedenken können, das sind Reime wie aus dem Soundsovieljahresplan. "Agrarwissenschaft im Dienste des Sozialismus" heißt es im Refrain des gleichnamigen Stückes – und dazwischen wird "Obst, Obst, Obst, Obst und Gemüse" skandiert: Ein deutliches Bekenntnis zu dem, was Menschen satt macht, eine unbeschwerte Wertschätzung der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse wird zu den bleibenden Erinnerungen der Erlebnisgeneration an die DDR gehören. IFA Wartburg schüttelt aber diejenigen ab, die bloß auf ein parodistisches Kabinettstückchen aus sind. Die Stücke enden nicht, wenn alle Facetten des Rollenspiels dargeboten sind, sondern gewinnen hier erst so richtig an Fahrt: eine delirierende Erfahrung, die die Einzigkeit der DDR in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts durchschaubar macht.


 
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