© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Oper: Richard Wagners "Siegfried" im Staatstheater Kassel
Der Schutt der Gefühle
Konrad Pfinke

"Des Ringes waltet, wer ihn besitzt" – das Staatstheater Kassel waltet des "Ringes", ohne Frage. Mit dem "Siegfried" steigt man hier in die fünfziger Jahre ein, so wie man mit "Rheingold" die Gründerzeit und mit der "Walküre" die dreissiger und vierziger Jahre durchwanderte.

100 Jahre Deutsche Geschichte – unter diesem Motto steht ein "Ring", dessen theatralische Wirkung immens, dessen Logik schlichtweg bezwingend ist. Die Idee, an der chronologischen Spur den Ringkampf aufzuzeigen, ist zwar willkürlich, aber nicht falsch. Falsch sind nur die Kriegsgewinnler, die nach dem verlorenen Winterkrieg der "Walküre" ihren Schnitt machen wollen wie Alberich. Falsch sind nur die Kriegsversehrten, die mit dem vaterlosen, zornigen jungen Mann namens Siegfried nicht mehr zurande kommen, weder in Mimes Wohnküche noch im Wald. Hier regiert der Schutt, auch der Schutt der Gefühle. Siegfried, der "Held", ist in Michael Leinerts Inszenierung ein Nachkriegskind par exellance, orientierungslos, auf der Suche nach der neuen Welt, die er sich schaffen muß, umgeben von den Alten, die ihm "stets im Weg" stehen – und er ist blind. Das hübsche Waldvöglein im Petticoat kann noch so charmant vor ihm herumtänzeln – Siegfried braucht das "heilige Weib", den Mutterersatz, der seit zwanzig Jahren auf dem naturhaft zugewachsenen Panzer ruht.

Leinert hat es auch im "Siegfried" geschafft, die prägenden Bilder der Geschichte so elegant mit der "Ring"-Handlung zu verknüpfen, daß der Gedanke an eine plumpe Politallegorie erst gar nicht aufkommt. Wenn Urmutter Erda als Trauermutter mit zwei gespenstischen Todesgenien vor dem Kriegerdenkmal sitzt – "Männertaten" umdämmern ja bekanntlich ihren "Mut" –, dann ist dieses Bild mehr als eine These: Es findet zu Wagners Musik wie zu seinem archaisch grundierten Ethos. Der Wanderer aber, der nur im Rollstuhl sitzt, wenn es ihm ins Konzept passt, ist beides zugleich: majestätischer Quasi-Gott und Schuft. All das – nicht jede Inszenierung vermag diesen nur scheinbaren Widerspruch so deutlich zu zeigen – steht schon bei Wagner.

Man hat in Kassel nicht nur das Glück des rechten Regisseurs, der Zusammenhänge herstellen kann, ohne sie der Wirkung ohne Ursache zu opfern. Man hat am Staatstheater auch ein Ensemble, das vokal und schauspielerisch die höhere Wahrhaftigkeit und den grausigen Humor des "Siegfried" verbürgt. Allen voran Christian Franz, der bereits ein bezwingender Siegmund war und nun beweist, daß er mit seinem kräftigen und doch lyrischen Tenor in die erste Reihe der Wagner-Sänger gehört. Er bewältigt noch fast mühelos das Schlußbild mit seinen höllischen Steigerungen, wenn Susan Owen mit ihrem dramatischen Sopran eine Wunschmaid von Brünnhilde hinstellt. Bayreuther finden in Manfred Jung einen Mime wieder, dessen mimische und vokale Ausdruckskraft immer noch beeindruckend ist. Claudio Otellis Wanderer ist da schon etwas beschränkter in seinen Möglichkeiten (was angesichts der Klangmassen verzeihlich ist), und Silke Marchfelds Erda präsentiert die Urmutter in jedem Sinn tiefschwarz: eine beglückende Interpretation. Bleiben Klaus Wallprechts Alberich und Dieter Hönigs Fafner: zwei Solisten, die neben dem Waldvogel der Marisca Mulder für die Güte eines rundweg erfreulichen Ensembles zeugen. Roberto Patanostra gab der Partitur den Schwung, der einem Musik-Drama gebührt: mit Bedacht, doch ohne Bedächtigkeit die Farben des Orchestersatzes fein ausleuchtend.

Und der Drache? Natürlich, der Drache war auch diesmal ein lächerliches Viech, ein Hubpodium aus Stahl mit schwingenden Baggerschaufeln, aber ein mißglückter Drache spricht nicht gegen einen "Siegfried", der uns mehr über die deutsche Geschichte erzählt, als manchem Wagnerianer lieb sein kann.


 
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