© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Hasso G. Stachow: Fiasko an der Newa
Ein Mosaik des Schreckens
Georg Willig

Die Belagerung Leningrads zwischen 1941 und 1943 ist ein besonders grauenhaftes Kapitel in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Ein seltener Zeitzeuge dieser Ereignisse ist Hasso G. Stachow: Als 18jähriger war er Soldat in einer Infanterie-Division an der Pogostje-Front, danach im Sturmbataillon der 18. Armee am Peipus-See. Mehrfach wurde er schwer verwundet. Ein halbes Jahrhundert später kommt er als Tourist in diese Stadt, die wieder St. Petersburg heißt und deren Geschick mit seinem so eng verbunden war. Da wurde ihm zur Gewißheit, sich nur durch die Beschreibung dieses Fiaskos von der Last seines Gewissens und seiner Erinnerungen befreien zu können.

Im Frühherbst 1941 wurde Leningrad von deutschen Truppen eingeschlossen; nur eine schmale Verbindung zum sowjetischen Gebiet und die Eisstraße über den gefrorenen Ladogasee blieben offen, wenn auch ständig unsicher. Die Kämpfe um den eisernen Ring um Leningrad steigerten sich zu einer infernalischen Intensität. Hunderttausende fielen auf beiden Seiten. Im Inneren des Ringes häuften sich Gerüchte über Kannibalismus. Aus gefrorenen Leichen wurden über Nacht Stücke herausgeschnitten. Wer Lebensmittel stahl, wurde erschossen. Aber auch Machtfragen im Parteiapparat scheinen die noch möglich gewesene Rettung größerer Bevölkerungsteile verhindert zu haben. Die Blockade dauerte 900 Tage. Von den drei Millionen Einwohnern starben zwischen einer halben und einer Million. Die meisten von ihnen verhungerten.

Mitte Januar 1944 stehen die Rotarmisten der 42. Armee vor Duderhof, dem Höhenzug 20 Kilometer vor Leningrad, auf dem zweieinhalb Jahre zuvor General Hoepner klar wurde, daß es mit einem schnellen Stoß zum Winterpalais nichts werden würde, weil Hitler plötzlich die Ukraine und Moskau wichtiger waren als die Eroberung Leningrads. Am 27. Januar feierten die Leningrader ihre endgültige Befreiung, bald darauf wird Hoepner als Teilnehmer am Staatsstreich vom 20. Juli 1944 im Zuchthaus Plötzensee gehenkt.

Marschälle und Historiker haben ihre Berichte längst vorgelegt – aus der Perspektive der Strategen und Forscher. Diese sind auch Quellen für dieses Buch gewesen; aber Hasso G. Stachow stieß noch auf andere, darunter russische, die lange nicht zugänglich waren: Briefe, Protokolle, Fernschreiben, Tagebücher und Tagesbefehle. Diese Momentaufnahmen hat Stachow zu einem kontinuierlichen Zusammenhang verschmolzen. Die Perspektive des Blicks von außen und die erlebnisgeprägten Eindrücke sind eins geworden.

Das Motiv, das ihn antrieb, dieses Buch zu schreiben, liegt wohl in folgenden Sätzen: "Wer in unserem Land Kriegsversehrte nach Selbstmitleid fragt, nach Enttäuschung über fehlenden Dank des Vaterlandes über die schmale Rente hinaus, wird selten fündig. Die Quintessenz aller Gespräche mit Versehrten: Weder unsere Toten noch wir brauchen heute das Mitgefühl von Leuten, die Depressionen bekommen, weil sie Deutsche sind."

So kann es nur darum gehen, einen "Sinn" in diesem sinnlosen Geschehen zu finden. Nach der Öffnung der sowjetischen Archive besteht kein Zweifel mehr daran, daß erst die abenteuerliche Skrupellosigkeit, mit der Hitler den Krieg auslöste, Stalin die willkommene Gelegenheit bot, seine langfristige Strategie gegen den Westen in Gang zu setzen. Diese Zusammenhänge können aber nichts an der Tatsache ändern, daß die toten und verstümmelten deutschen Soldaten Opfer des wahnsinnigen Angriffskrieges Hitlers geworden sind, gleichzeitig aber auch den Eroberungsplänen des anderen blutigen Diktators Widerstand leisteten.

Mißbrauchte Soldaten wurden auf beiden Seiten Opfer eines ideologischen Machtkampfes. Wie das von den Soldaten erlitten wurde, beschreibt Stachow in allen erschreckenden Einzelheiten. Georg Willig

Hasso G. Stachow: Fiasko an der Newa. Die Belagerung von Leningrad 1941 – 1944. Herbig Verlag, München 1998, 276 Seiten, 49,90 Mark


 
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