© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/98  06. November 1998

 
 
Die neue Bescheidenheit
von Hans-Peter Rissmann

Kaum war der neue Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Amt, zeigte der "zweite Mann im Staat" – protokollarisch kommt er nach dem Bundespräsidenten und vor dem Bundeskanzler –, daß er seiner Aufgabe mehr als gewachsen ist. Unangenehme Wahrheiten auszusprechen hatte er sich vorgenommen und den Bürgern klar und unumwunden deutlich zu machen, daß schwere Herausforderungen auf sie zukommen. Denn: Deutschland muß fit gemacht werden für das 21. Jahrhundert. Im Zuge von Globalisierung, wachsender Arbeitslosigkeit und dem Verfall der sozialen Sicherungssysteme müssen wir eben alle noch enger zusammenrücken und gemeinsam anfassen, wenn wir die Aufgabe "packen" wollen.

Und Thierse machte es vor, wie es geht. Der Satz, "Führen durch Vorbild", scheint ihm in die Wiege gelegt worden zu sein. Tapfer und mit Opfermut schlug er, frisch gewählt, ein neues Kapitel in der politischen Kultur der Bundesrepublik (von Deutschland will man unter der neuen Regierung ja weniger sprechen) auf. Die Berliner Republik steht für einen völlig neuen und erfrischenden Stil. Vergessen sind die Dienstwagenaffären seiner Vorgängerin Rita Süssmuth, längst Gras gewachsen ist auch schon über die delikate Diskussion um die Beanspruchung der Flugbereitschaft durch die vormalige Bundestagspräsidentin für private Besuche bei ihrer Tochter in der Schweiz und des Ferienhauses in den Niederlanden.

Nein: Unter Gerhard Schröder soll nun – Respekt vor soviel Bescheidenheit – nicht alles anders, doch manches besser werden. Nun ja. Aufbessern jedenfalls will nun Thierse möglichst schnell das beschämend schmale Salär der Bundestagsabgeordneten. Dringend erhöht werden müßten die Bundestagsdiäten, meint Thierse. Begründung: Politiker müßten "normal gut verdienen, damit sie eben nicht bestechlich oder anfällig sind". Es sei "mißlich, wenn der Eindruck entsteht, daß Bundestagsabgeordnete noch alles mögliche nebenbei verdienen". Mit beschämend knappen 12.350 Mark pro Monat müssen sich die Volksvertreter durchs Leben schlagen – wird da nicht bereits auf dem Lohnstreifen latenter Antiparlamentarismus deutlich?

Einer, der es wissen muß, widersprach Thierse vehement: Jürgen Koppelin, FDP-Abgeordneter, meinte, daß die "Wiederstandsfähigkeit von Abgeordneten gegen Bestechungsangebote" wohl nicht "von der Höhe der Abgeordnetendiäten abhängig gemacht werden" könne. Richtig: Davon hat sich bisher kaum einer abhalten lassen.


 
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