© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
Vergehende Vergangenheit
von Frank Michael

Die Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der sogenannten "Reichskristallnacht" hat der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, wie schon auf der Frankfurter Buchmesse angekündigt, genutzt, sein Unverständnis über die Rede von Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche im Oktober zu konkretisieren (die JF berichtete). Es ist bedauerlich, daß der mit dem Schriftsteller Walser erstmals von einem exponierten Intellektuellen ausgedrückte Wunsch nach Normalisierung bei ihm gerade das genaue Gegenteil auslöste: Bubis sprach in Berlin abermals von "geistiger Brandstiftung", von einer "Kultur des Wegschauens".

Diese Einschätzung von Bubis wird der Position Walsers nicht gerecht. Dennoch demonstrierte die Rede von Bubis eine neue Qualität. Bubis betonte, er spreche ausdrücklich für sich und nicht für "alle Juden". Er brachte bewußt nicht den Zentralrat, sondern seine Person in Stellung. Bemerkenswert ist, daß Walsers Rede und Bubis Reaktion auch nicht zu einem neuen "Fall Jenninger" führten. Davon zeugen die öffentlichen Reaktionen, sowohl nach Walsers Rede als auch jetzt nach der Replik von Ignatz Bubis. Und davon zeugen auch die Worte von Bundespräsidenten Roman Herzog in Berlin, der sich sichtlich um Moderation bemühte und Walser deutlich in Schutz nahm. All dies sind Anzeichen dafür, daß in Deutschland mehr Wahrhaftigkeit in die zweifellos schwierige Auseinandersetzung um die Formen des Erinnerns und Gedenkens an die Verbrechen im Dritten Reich und den Holocaust an den Juden zu kommen scheint. Dieser gewandelte Umgang mit der Vergangenheit läßt sich auch nicht durch ein noch so krampfhaftes Festhalten an hergebrachten Gedenk- und Diskussions-Ritualen aufhalten.

Es wäre bedauerlich, wenn Bubis dies nicht nachvollzieht und die unlängst von ihm in einem Zeitungsgespräch angedrohte (inzwischen jedoch wieder revidierte) persönliche Konsequenz eines Rücktritts von seinem Amt deshalb ziehen würde. Ignatz Bubis steht für eine spürbar gewandelte Rolle des Zentralrates seit dem Abtritt seines Vorgängers Heinz Galinski. Noch bedauerlicher wäre, wenn die von Martin Walser angestoßene geschichtspolitische Nachdenklichkeit nicht aufgegriffen würde.

An der Schwelle zur "Berliner Republik" und im Anzug des neuen Jahrtausends ist spürbar, daß die Vergangenheit im Begriff ist, zu vergehen. Die Form des Erinnerns an das Vergehende aber steht weiter zur Diskussion.


 
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