© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
CDU: Der SozialforscherErwin K. Scheuch über die Chancen der Partei nach Kohl
"Das System könnte zerbröseln"
Dieter Stein

Ist es möglich, daß sich künftig die CDU – wie nach 1969 – zur stärksten Partei regeneriert?

Scheuch: Es gibt zwei Unterschiede zu 1969. Der eine spricht für, der andere gegen die CDU. Zum einen haben die Wähler dieses Mal in erster Linie nur einen Kanzler abgewählt; der Alte mußte weg. Die Wahl Schröders geschah nicht mit der Überzeugtheit, wie dies damals bei Willy Brandt der Fall gewesen war. Die Wähler haben zum überwiegenden Teil diesmal ein lockeres Verhältnis zur gewählten Partei.

Was gegen die CDU spricht, ist, daß im Jahre 1969 ein Aufbau über die Kommunen und Kreisverbände möglich wurde. Von den großen Städten werden aber nur noch drei mehrheitlich von der CDU geführt – nämlich Stuttgart, Berlin und Frankfurt. Nachdem die CDU über Jahrzehnte hinweg die Kontrolle über die größeren Kommunen eingebüßt hat, fehlt ihr an der Basis die Möglichkeit, Patronage zu üben und dadurch Parteivolk an sich zu binden. Wenn, dann ist die Rückkehr zur Macht nur über die Landesverbände möglich. Und die sind zum Teil in einem erbärmlichen Zustand. Von den Voraussetzungen eines Neuaufbaus her, aus eigener Kraft, nicht nur durch Schwäche des Gegners, ist die Situation heute ungleich ungünstiger für die CDU. Schließlich dürfen Sie nicht vergessen: Auch nach 1969 hat es fast zwei Jahre gebraucht, bis die Partei sich aus ihrer Starre löste, dem Schrecken, daß sie die Macht überhaupt verlieren konnte. Dann sehe ich nicht, wie Schäuble es schaffen sollte, die CDU wieder nach vorne zu bringen. Damals brachte das ein Trio zustande: Kohl, Geißler und Biedenkopf. Analoges sehe ich nicht.

Ist Schäuble ein Übergangskandidat?

Scheuch: Mehr ist Schäuble nicht. Er ist gewiß ein wackerer Arbeiter. Erstens hat er sich aber immer wieder auch als ein Opportunist erwiesen. Wenn Schäuble außerdem den Kurs der Partei alleine bestimmen könnte, dann würde das auf links und grün zulaufen, anstatt eine Alternative aufzuzeigen. Im Gegenteil: Ich glaube, daß Schröder bei den harten Themen Schäuble mühelos rechts überholt.

Wird es überhaupt noch möglich sein, daß das bürgerliche Lager durch die CDU organisiert wird?

Scheuch: Das weiß ich nicht. Die einzige intakte Formation innerhalb dieses lockeren Bündnisses ist meines Erachtens noch die bayerische CSU mit Stoiber, der einen guten Kanzlerkandidaten abgeben würde.

Wie könnte sich die CDU neu formieren?

Scheuch: Folgendes Szenario: Die Wirtschafts- und Steuerpolitik der neuen Regierung wird sich binnen eines Jahres festfahren. Da bewegt sich dann nichts mehr, höchstens Ungünstiges. Tritt diese Situation ein, werden die Akzente auf die sogenannten "weichen Themen" verlagert, also: Doppelte Staatsbürgerschaft, mehr Rechte für Prostituierte, Schulpolitik und solche Themen, mit denen man das Wertgefüge der bürgerlichen Gesellschaft angreift. Das wiederum würde in einer CDU, die sonst keine wirklichen Konturen erkennen läßt, doch dazu führen, daß man sich als Gegenkraft versteht. Wirtschaftspolitisch hat die CDU im Augenblick nichts zu bieten.

Ist ein Szenario wie in Italien denkbar, das zu einem völligen Niedergang der CDU führt?

Scheuch: Dafür könnten diejenigen sorgen, die sich auf eine schwarz-grüne Option versteifen. Die CDU-Sozialausschüsse wollen die SPD links überholen. Wenn die CDU-Führung diese divergenten Klüngel nicht in den Griff bekommt, dann könnte dies in der Tat dazu führen, daß die CDU auf das Niveau des alten Zentrum schrumpft. Es ist jetzt schon so, daß die Union nur noch in den südwestdeutschen Regionen ein starker Faktor ist.

Das würde bedeuten, daß eine neue bürgerliche Kraft entstehen müßte. Dies ist doch bisher nicht in nennenswerter Weise gelungen.

Scheuch: In Europa sind die Bürgerlichen in jedem Land anders organisiert. Nur die Sozialisten sind überall geleich. In Deutschland finden Sie den Versuch, die konfessionelle Spaltung in der Politik durch ein verbindendes "C" aufzuheben. Die CDU wuchs dann in die Rolle hinein, bürgerliche Vorstellungen zu vertreten. Ursprünglich war das Zentrum keineswegs eine bürgerliche Partei, eher eine Partei der linken Mitte. Eher könnte sogar die FDP Ansätzte dazu bieten, nachdem sie den Genscherismus weitgehend überwunden hat.

Erwarten Sie ernsthaft, daß die FDP eine rechtsliberale Position einnimmt?

Scheuch: Das ist ihre einzige Chance! Alles andere können Sie vergessen. Die Faschismuskeule gegen die, die sich rechts positionieren, ist auch zunehmend abgenutzt. Jüngstes Beispiel ist der Streit nach der Rede von Martin Walser. An ihm ist es schon nicht mehr gelungen, ein Exempel zu statuieren.

In Mecklenburg-Vorpommern sitzt die SED-Nachfolgerin jetzt in der Regierung. Ist die CDU mitverantwortlich, daß die PDS salonfähig geworden ist?

Scheuch: Durch Kritiklosigkeit hat sie mit dazu beigetragen. Auch durch die Politik des "Schwamm drüber" gegenüber den alten Kadern der DDR. Wenn jetzt Herr Gauck sagt, daß die Amerikaner eine Liste mit weit über 1.000 Namen von Agenten haben, die bei uns keiner kennt, dann ist das nur ein Beispiel dafür, was man alles totgeschwiegen hat. Die CDU ist mitschuldig, indem sie hingenommen hat, daß die SED sich unter der Tarnbezeichnung PDS wieder etablieren und dabei auch gewaltige Geldmittel für sich beiseite schaffen konnte.

Was bedeutet dieser Aufstieg der PDS für das Parteiensystem und die Demokratie?

Scheuch: Herr Holter, stellvertretender Ministerpräsident in Mecklenburg-Vorpommern, ein Mann mit einem lupenreinen Kaderlebenslauf, fünfjähriger Schulung in Moskau, hat soeben erklärt, man wolle eine andere Republik, müsse dabei aber im legalen Rahmen bleiben. Legal wolle man aber alle Möglichkeiten ausschöpfen mit dem Ziel einer anderen Republik. Ich habe mich an Hitler erinnert gefühlt, der nach dem fehlgeschlagenen Putsch vor der Feldherrenhalle den Parteigenossen einschärfte, man müsse auf legalem Wege an die Macht kommen.

Was ist der richtige Umgang mit der PDS?

Scheuch: Klar machen, daß dies eine ungeläuterte Weiterexistenz einer totalitären Kraft unter anderem Namen ist.

Liegt die Chance in klarer Polarisierung – Beispiel "Freiheit statt Sozialismus"?

Scheuch: Lassen Sie mich unterscheiden zwischen ordnungspolitischer Richtung und taktischem Verhalten. Ich würde vor einer Polarisierung zum jetzigen Zeitpunkt warnen, weil ein Großteil des Bürgertums in der Hoffnung lebt, es komme ja alles nicht so schlimm. Man muß die Leute mißtrauisch machen, was beispielsweise der Quatsch mit einer Ökosteuer soll. Wenn man meint, Autofahren sei schädlich und muß deshalb durch Verteuerung zurückgedrängt werden, dann kann man das machen. Dann darf man aber nicht erwarten, daß Geld in die Kassen kommt, um die Lohnnebenkosten zu senken. Eine Ökosteuer, die den Namen verdient, ist eine Steuer, die materiell nachher weniger einbringt als vorher. Sie dient allein dazu, Verhalten zu ändern, nicht aber als Einkommensquelle. Hier findet reines Abzocken statt – hier kann die Opposition schon jetzt tätig werden.

Stichwort doppelte Staatsangehörigkeit?

Scheuch: Wenn diese wirklich eingeführt werden sollte, rate ich zur bedingungslosen Polarisierung.

In den siebziger Jahren wurde mehrfach die Ausdehnung der CSU über Bayern hinaus ins Spiel gebracht. Warum ist dies vollkommen illusorisch?

Scheuch: Weil die Lokalfürsten der CSU ein kleines Königreich im Totalbesitz für besser halten, als Teilhabe an einem größeren Königreich.

Ein politisches Luftschloß?

Scheuch: Wenn die CDU in den nächsten zwei Jahren keine Konturen zeigt, trotz einer katatstrophalen SPD-Regierung, dann könnte sich diese Frage sich erneut stellen.

Welche Zukunft prognostizieren Sie unserem Parteiensystem?

Scheuch: Keine gute. Eine der Hauptaufgaben des Parteiensystems ist die Auswahl eines vorzeigbaren Personals und das Schnüren von vernünftigen Politikpaketen. Da sehe ich schwarz.

Wird das Parteiensystem zerbrechen?

Scheuch: Es ist nicht auszuschließen, daß es zerbröselt. Nehmen Sie nur einmal unsere SPD, die so gut dazustehen scheint. Eine ganze Anzahl von Funktionären schielt aber hinüber zu den Grünen und zur PDS! Das sind Zentrifugalkräfte, die auch auf die SPD einwirken.

Die Radikalen werden gestärkt?

Scheuch: Die Volksparteien hatten ursprünglich die Aufgabe, wie Staubsauger zu wirken. Die CDU hatte die Funktion, die rechten Kräfte in das Parteiensystem einzugliedern, die SPD die Linken. Je konturenloser die Führungskräfte werden, desto stärker werden die Spannungslinien, die zum Bruch führen können.

Halten Sie einen Erfolg einer rechten, konservativen Partei in Zukunft für möglich?

Scheuch: Selbst Manfred Brunner ist es nicht gelungen, die verbreitete Ablehnung des Euro in Stimmen für seine Partei umzumünzen. Das war ein Mann, der eher konservative Positionen vertrat. DVU, NPD und Republikaner bekamen bei der letzten Bundestagswahl ein größeres Ergebnis. Aber mangels Organisation und Führung ist nicht erkennbar, daß die Zersplitterung aufgehoben werden könnte – sie sind ja auch in der Einstellung zur Demokratie durchaus unklar.

Wird die CDU eine radikale Partei heraufbeschwören, weil sie eine gemäßigte Alternative nicht zuließ?

Scheuch: Das hat sie tatsächlich verhindert. Das wäre aber nötig in der heute veränderten Situation.

Prof. Dr. Erwin K. Scheuch

Jahrgang 1928, ist emeretierter Ordinarius für Soziologie und hat sich internationale Reputation u. a. als empirischer Sozialforscher und durch Beiträge zur Wissenschaftstheorie erworben. Dabei scheute er auch nicht die politische Auseinandersetzung: 1970 gehörte er zu den Gründern des Bundes Freiheit der Wissenschaft. Große Beachtung fand seine 1992 gemeinsam mit seiner Ehefrau Ute Scheuch publizierte Studie "Cliquen, Klüngel und Karrieren", die sich mit den Krisenphänomenen des Parteiensystems befaßte. Aus Protest gegen die Süßmuth-Affäre (private Flüge mit der Flugbereitschaft des Bundestages) trat Scheuch vor zwei Jahren aus der CDU aus.


 
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