© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
Rußland: Soziale Sicherheit stehen bei der Bevölkerungsmehrheit an erster Stelle
Echte Colts im Schulterhalfter
Kai Guleikoff

Moskau und Petersburg sind nicht Rußland, sagt ein altes Sprichwort. Der reizvollen Besonderheit dieser Großstädte erliegt auch heute mancher Besucher – und zieht seine falschen Schlußfolgerungen. Die Kaufhäuser und Märkte sind zahlreich, mit einem großen Warenangebot versehen und ständig von Menschen umlagert. Heute wie früher handelt es sich dabei um Segnungen von "Sonderbewirtschaftungen". Zu Lenins Zeiten stand die Tscheka mit aufgepflanzten Bajonetten vor Feinkostläden und Luxusrestaurants, um "Devisengäste" vor dem hungernden Volk zu schützen. Die heutigen Wächter tragen Zivil und echte Colts im Schulterhalfter. Wer nur herumlungert, bekommt einen Tritt. Kontinuität der Methoden.

Der Unterschied im Lebenswandel ist erheblich

Die geringe Belebung der Wirtschaft ist jedoch zum größten Teil auf die Steigerung des privaten Konsums zurückzuführen. Die Gelder, vorwiegend US-Dollar, stammen fast ausschließlich aus der Schattenwirtschaft, der Spekulation oder der organisierten Kriminalität. Mit dem Versuch der Umsetzung amerikanischer Vorstellungen von einem Crash-Kurs in die Marktwirtschaft fiel die Wirtschaftskraft rapide und hat heute erst wieder 57 Prozent der Stärke von 1989 erreicht. Nach Analyse des "ostkompetenten" Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle wird eine Stärkung der Staatswirtschaft für die Zukunft erwartet, ohne Rückkehr zur alten Planwirtschaft. Wer darüber die Nase rümpfen sollte, muß sich mit der Geschichte, der Größe und der Vielfalt der Völker und Religionen dieses Riesenreiches intensiver beschäftigen.

Rußland ist der flächenreichste Staat der Erde, größer als die USA, größer als Europa. Die russische Bevölkerung, die zu 82 Prozent christlich-orthodoxe Glaubenswurzeln hat (besonders auf dem Land), besteht aus etwa 100 Völkern und Volksgruppen. Die Kriegsteilnehmer der deutschen Ostfront werden sich noch an die schnellen Wetterwechsel des Kontinentalklimas erinnern können, mit allen Auswirkungen auf die Verkehrswege. Bis heute hat sich abseits der Hauptstraßen an diesem Zustand nichts geändert. Der Unterschied im Lebenswandel zwischen Stadt- und Landbevölkerung ist erheblich. Außerhalb des breiten Datschen-Gürtels – bis zweihundert Kilometer von der City entfernt – existiert ein anderes Rußland. Das Landleben, die Stärke des ursprünglichen Bauernvolkes, ist ein Faktor der relativen Stabilität im Wirtschaftschaos. Wie in allen Notzeiten, trägt ein Austausch Ware gegen Ware, Dienstleistung gegen Dienstleistung oder eine Kombination aus beiden zur bargeldlosen Befriedigung der Grundbedürfnisse bei. Die ländliche Struktur der Großfamilien, die zwar nicht mehr so häufig wie früher zusammenleben, doch meistens engen Sozialkontakt halten, verhindert Hunger und Obdachlosigkeit größeren Ausmaßes. Bei einer Bevölkerungsdichte von zwölf Einwohnern pro Quadratkilometer ist dieser Zusammenhalt überlebenswichtig. Deutschland ist im Vergleich zwanzigmal dichter besiedelt. Obwohl ein Fünftel aller Arbeitskräfte landwirtschaftlich beschäftigt sind, kann ein russischer Bauer nur acht weitere Personen ernähren. Das entspricht der (west-)deutschen Produktivität in den 50er Jahren. Heute ernährt ein deutscher Bauer über 40 Personen.

Dieser immense Qualitätsunterschied spricht dafür, die genossenschaftliche Wirtschaftsform in Rußland beizubehalten und schrittweise die kleinen privaten Nebenwirtschaften (Hofland) zu erweitern. Die Hoflandbewirtschaftung deckt bereits heute weitgehend den familiären Bedarf an Grundnahrungsmitteln ab. Kolchosen (Kollektivwirtschaften) und Sowchosen (Staatsgüter) könnten sich die amerikanischen Großfarmen zum Vorbild nehmen, da hier durchaus organisatorische Ähnlichkeiten vorhanden sind.

Die Landwirtschaft steht besser da als die Industrie

Die Lage der Industriebetriebe ist deutlich schlechter als die der Landwirtschaft. Wenn die Weltklimakonferenz von einem Rückgang des Schadstoffausstoßes in den Ländern des ehemaligen Ostblocks spricht und besonders die ehemalige Sowjetunion hervorhebt, hat das einen sehr bitteren Beigeschmack. Die Stillegung ganzer Industriezweige und Wirtschaftsregionen bedeutet Arbeitslosigkeit für hunderttausende Russen. Ersatz in der Dienstleistung konnte nicht geschaffen werden, weil aufgrund der Armut keine ausreichende Nachfrage besteht. Die ehemalige Weltmacht fiel als Exporteur im Jahr 1997 hinter die Schweiz auf Platz 20 zurück. Rußland exportierte Waren im Wert von nur noch 66 Milliarden Dollar. Im Vergleich dazu stehen Deutschland mit 512 Milliarden und die USA mit 689 Milliarden Dollar auf den Plätzen zwei bzw. eins.

Bei Rüstungsexporten steht Rußland auf Platz zwei

In dieser russischen Bilanz hält der Waffenhandel eine traditionelle Spitzenposition. Von 1993 bis 1997 exportierte Rußland konventionelle Waffen im Wert von 15,2 Milliarden Dollar und belegt wenigstens hier Platz zwei hinter den USA (53,1 Milliarden). Der russische Militär-Industrie-Komplex ist nahezu identisch geblieben mit dem ehemaligen sowjetischen. Seit 1993 vermarktet die staatliche "Gesellschaft für den Export von Waffen und Militärtechnik" die besonders in der Dritten Welt begehrte russische Waffentechnik. Der militärische Sektor und die damit zusammenhängende Astronautik ("Kosmonautik") zeigen den unverändert hohen Entwicklungsstand wissenschaftlicher und ingenieurtechnischer Leistungen. Mehr als die Hälfte des verkauften Kriegsmaterials stellt modernste Flugtechnik dar, wie die Mehrzweckkampfflugzeuge der Suchoj-Reihe. Erinnert sei daran, daß der modernste deutsche Abfangjäger gegenwärtig die aus der Nationalen Volksarmee der DDR übernommene MiG-29 ("Fulcrum") ist, die im Jagdgeschwader 73 der Bundesluftwaffe fliegt. Russische Exportschlager sind das Raketensystem "Tor-M-1" zur Luftverteidigung gegen Hochgeschwindigkeitsziele, die Panzerhaubitze Kaliber 152 Millimeter "Giatsint" und nach wie vor die Modernisierung des Sturmkarabiners "Kalaschnikow" AK-74, der meistverbreiteten Handfeuerwaffe der Welt. Auch die Raumstation "Mir" ist trotz aller Pannen bisher die einzige im Orbit geblieben.

Dieser Verweis auf ein Gebiet der Hochtechnologie – die Waffentechnik immer sein muß – soll die potentielle Regenerationsfähigkeit Rußlands in Erinnerung bringen und davor warnen, die Mär vom "Koloß auf tönernden Füßen" zu bemühen. Die Reformen Gorbatschows haben zu keinen positiven wirtschaftlichen Veränderungen geführt. "Glasnost", die Offenheit im gesellschaftlichen Leben, wurde schon unter Zar Alexander II. im Jahr 1860 propagiert und führte zur Bauernbefreiung in Rußland 1861. Wirtschaftlich hatte sich deshalb auch nichts wesentliches verändert. Die Denkweise "Freiheit kann man nicht essen" ist in Rußland weit verbreitet. Soziale Sicherheit und nicht die individuelle Unabhängigkeit stehen bei der Bevölkerungsmehrheit an erster Stelle.

Die Regierenden in Rußland müssen sich dieser Tatsache annehmen und begreifen, daß sich Denkweisen nicht durch "Dekrete" verändern lassen. Der Westen muß begreifen, daß er seine Werte nicht exportieren oder per Kredittransfer "unters Volk" bringen kann. "Hilfe zur Selbsthilfe" ist ein bewährter Weg zur wirtschaftlichen Gesundung und Vertrauensbildung. Rußland muß selber seine Krise in überschaubarer Zeit überwinden. Die Stabilität des europäischen und asiatischen Raumes hängen davon ab. Ein "russischer Weg" zur Marktwirtschaft muß erst noch gefunden werden. Dieser böte in größerem Maße die Gewähr, daß Kredite für Rußland in Rußland bleiben und nicht auf russischen Auslandskonten kleine Interessengruppen bedienen.

Der Sozialismus der UdSSR war nicht konkurrenzfähig

Die Politik der "Perestrojka" im Sinne einer Um- und Neugestaltung war von der kommunistischen Partei unter Gorbatschow aus Einsicht in die Systemschwäche des real existierenden Sozialismus eingeleitet worden. Das Ziel war ursprünglich, die Konkurrenzfähigkeit des Sozialismus herzustellen, seinen "fortschrittlichen Beitrag zur Geschichte" in seinen Ergebnissen zu zeigen und damit seine Überlegenheit langfristig festzuschreiben. Gorbatschow verkannte den Grad der bereits eingetretenen gesellschaftlichen Starre. "Sein" Sozialismus war bereits tot. Der Westen sah sich blauäugig als "Sieger", der nun zur Aufteilung der Beute schritt. Diese "Beute" verkam innerhalb des eigenen Wirtschaftssystems zur Konkursmasse und belastet die eigene Soll-Seite in der Bilanz. Rußland muß als Freund und Partner nach Europa zurückkehren, wirtschaftlich und politisch eigenständig, aus einer alten Tradition schöpfend.


 
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