© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
Pankraz,
Peter Sloterdijk und der Schrei der Nachgeburt

Mit vergnügtem Wohlwollen verfolgt Pankraz die Erkundungen des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk. Der Mann sieht genau so aus, wie er heißt, wie aus einem Gemälde von Frans Hals entsprungen, was schon einmal irgendwie für ihn spricht. Außerdem ist er ein exquisiter Wortschöpfer und Perspektivenaufreißer, der immer wieder überraschenden Neusprech anbietet. Man kann sich bei ihm mit Niveau gut unterhalten.

Was er jetzt freilich mit seinem Buch "Sphären I, Blasen" (Suhrkamp Verlag) unter die Leute gebracht hat, geht ein bißchen zu weit. Sloterdijk will zeigen und begründen, daß der Mensch nicht gern allein ist, daß er ein geborener Höhlenbewohner ist, der es gern zweisam und gemütlich hat, daß also der übertriebene Inidividualismus der Moderne sich gegen die Menschennatur richtet. Dagegen wäre wenig einzuwenden, aber muß man dazu gleich in den Mutterleib hineinkriechen und sich zum Sprachrohr des Mutterkuchens machen, wie es Sloterdijk tut?

Unsere Sehnsucht nach Zweisamkeit und Koexistenz, lesen wir, rühre daher, daß wir bei unserem pränatalen Aufgang inniglich mit dem Mutterkuchen, der Plazenta, verbunden waren, von ihm ernährt wurden, mit ihm Gase austauschten. Er war unser "Mit". Bei der Geburt aber, die uns selbst zum Menschen macht, werde dieses unser "Mit" zur bloßen "Nachgeburt", die man wegschmeißt oder zu Granulat verarbeitet. Das sei der Ur-Schock. Wir suchten nun ein Leben lang nach der verlorenen Nachgeburt.

Überall im postnatalen Leben sieht Sloterdijk nur noch Erinnerungen an die Nachgeburt. Wenn ein Kind eine Seifenblase haucht und sie sachte davonschweben läßt – Nachgeburt. Wenn wir Bach oder Beethoven hören und in höchster Seelenerhebung in dieser "Sonosphäre" baden – Nachgeburt. Wenn ein Diktator eine leidenschaftliche, hocherhitzte "Gemeinschaft" errichtet und gegen den Rest der "kalten, sphärenlosen" Welt des Individualismus abschottet – Nachgeburt. Das, findet Pankraz, geht entschieden zu weit.

Wer allen Ernstes behauptet, die Übel der modernen Welt stammten aus der Ignoranz der Hebammen gegenüber der Nachgeburt, der hat wohl wirklich, wie ein Rezensent nach Erscheinen von "Sphären I, Blasen" empört schrieb, "zu heiß im Fruchtwasser gebadet". Mag sein, die frühen Gesellschaften gingen respektvoller mit der Plazenta um, beerdigten sie feierlich (während sie die Babys, falls unerwünscht, oft genug mitleidlos aussetzten). Von der Natur jedoch ist eine Privilegierung der Nachgeburt gewiß nicht vorgesehen, sie behandelt sie durchgängig mit Gleichgültigkeit, als lediglich funktionellen Dottersack.

Entweder die Babys selbst benutzen sie nach der Geburt als vitaminreiche Nahrungsreserve für die ersten Stunden und Tage, oder die Mütter werfen sie gewissermaßen den Feinden der Gattung vor, um ihre Babys vor ihnen zu schützen. In den Tierfilmen aus Afrika kann man es immer wieder beobachten: Die die gebärenden Zebra- und Antilopenmütter umschweifenden Hyänen- und Wildhundrudel stürzen sich sofort gierig auf die Nachgeburten – und ermöglichen so den Zebras und Antilopen, ihre Babys vor ihnen in Sicherheit zu bringen.

Fast wirkt auch Sloterdijk wie eine Antilopenmutter, indem er immer wieder mit immensem Wortaufwand auf die Nachgeburt hinweist und von den Babys ablenkt. Die Nachgeburt ist für ihn Eurydike, die Orpheus aus Unachtsamkeit ins Nichts zurückstößt. Sie ist "der Seelenraumteiler", der "Kaspar Hauser unter den Organen", während das zugehörige Baby herablassend als "unruhiger Rest" abgetan wird, "dessen entzogene Hälfte nicht aufhört, den Zurückgebliebenen in Anspruch zu nehmen".

Zwar räumt er, etwas widerwillig, ein, daß schon im Mittelalter die Nachgeburt als bloße Nahrungsreserve traktiert worden sei, wovon etwa gewisse Rezepte von Hildegard von Bingen zur Herstellung von Fleischrouladen mit Plazentafüllung Zeugnis gäben. Aber richtig schuldig gemacht am Mutterkuchen habe sich doch erst die Moderne seit der Aufklärung. Damals sei gegen die Nachgeburt eine gnadenlose "gynäkologische Inquisition" eröffnet worden, verbunden mit systematischem "Ekeltraining", das mittlerweile dazu geführt habe, daß Nachgeburten heute vorzugsweise als Brandbeschleuniger in Müllverbrennungsanlagen verwendet würden. Gipfelpunkt der Entfremdung, Zeit zur Umkehr.

Noch einmal: Zeit zur Umkehr mag tatsächlich sein, und man soll ruhig auch tief graben, um gute Argumente für sie zutage zu fördern. Doch der Gang ins Innere der Mütter ist der falsche Weg. Was wir dort, in der Ur-Blase, erfahren haben, eignet sich nicht zur Versprachlichung, auch nicht zur Darreichung in sprachlichem "Geschenkpapier", als das Sloterdijk seine eigenen Expektorationen kokett deklariert.

Das haben schon die alten Ägypter gewußt, die sich ja mit den Müttern, mit Vorgeburtlichkeit und Wiedereintritt ins Reich der Ur-Blase, wahrhaftig auskannten. Immer wieder stoßen die Archäologen auf ägyptische Plastiken mit Kinderköpfen, auf deren Lippen ein großer fremder Finger liegt. Es ist der Finger des Engels der Schwangerschaft, der dem neugeborenen Kind die Lippen versiegelt, auf daß es zu Lebzeiten nichts von dem, was es in der Ur-Blase erfahren hat, ausplaudere. Denn dies ist ein Geheimnis, und wir können das Leben nur bestehen, wenn wir es hüten.

Erst in der Todesstunde erschien bei den Ägyptern der Engel der Schwangerschaft wieder, denn er war auch der Engel des Todes. Erst in der Todesstunde wird dem Menschen erlaubt, sich exakt an all das zu erinnern, was er schon vor der Geburt gewußt hat, weil der Engel ihm die Lippen löst. Aber er hat keine Zeit mehr, es zu erzählen, er kann nur noch röchelnd schreien, und diesen Schrei (wie auch den Babyschrei bei der Geburt) versteht nur der Hahn. Das Geheimnis bleibt gewahrt.


 
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