© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
Martin Heidegger: Mit einem Kunstwerk auf dem Holzweg
Irrtum um van Goghs Schuhe
Volkert Stern

Um kaum einen Denker haben sich in diesem Jahrhundert die Geister so sehr gestritten wie um Martin Heidegger (1889–1976). Vorangetrieben wurde der Streit um Heidegger nicht zuletzt durch sein Engagement für den Nationalsozialismus und den Entzug der Lehrbefugnis durch die Besatzungsmächte. Die eine Seite hält Heideggers Philosophie für ungebrochen aktuell. Sein Engagement für die Nazis sei mit dem epochemachenden Werk "Sein und Zeit" (1927) unvereinbar. Denn bei seiner Philosophie handele es sich um die höchste Form der Freiheit, die sich gegen die Herrschaft des "Man" – dessen, was man tut und denkt – richtet. Die andere Seite, meist durch Moralphilosophen vertreten, hält von Heideggers Freiheitsvorstellung gar nichts und sieht in ihm einen verkappten Romantiker, dem die Erkenntnis über die Moral ging.

Das Verständnis von Heideggers Philosophie hat durch den Streit um seine politischen Verstrickungen mehr gelitten als profitiert. Dafür wurde dem Denker aus dem Schwarzwald eine Aufmerksamkeit zuteil, die ihresgleichen sucht. Um so mehr muß es verwundern, daß es um einen Irrtum in seiner wohl wichtigsten Schrift nach "Sein und Zeit", dem Holzwegetext "Der Ursprung des Kunstwerkes" (1936), sehr ruhig geblieben ist. Im Wiener FORVM, einer "internationalen Zeitschrift für kulturelle Freiheit, politische Gleichheit und solidarische Arbeit", deren Erscheinen 1996 eingestellt wurde, hieß es noch 1995, daß Heidegger ein von van Gogh gemaltes Paar Schuhe für Bauernschuhe hielt, obwohl es sich nachweislich um van Goghs eigene Schuhe handelte. Dies wäre nicht so bemerkenswert, wäre eben jenes Schuhgemälde von van Gogh nicht das zentrale Kunstobjekt, an dem Heidegger seine Philosophie der Kunst entfaltete. Nun ist die Erkenntnis, daß Heidegger die Schuhe van Goghs für Bauernschuhe hielt, nicht neu, sondern geht auf die 50er Jahre zurück. Bemerkenswert ist nur, daß von alledem kaum die Rede ist. So findet sich in Friedrich-Wilhelm von Herrmanns umfangreicher Interpretation "Heideggers Philosophie der Kunst" (1980/1993) kein Satz zu besagtem Irrtum. Auch in einem Hochschulseminar im zurückliegenden Sommersemester an der Universität Düsseldorf zu Heideggers Kunstaufsatz wußte der Professor nichts von einem möglichen Irrtum um van Goghs Schuhgemälde. Bleibt nur ein Griff in die Schublade, um die betreffende Ausgabe von FORVM erneut herauszukramen.

Der Aufsatz beginnt mit den Worten "Wehret den Anfängen". Unter der Überschrift "Tiefsinn statt Wahrheit. Note zu Heidegger" schreibt Hilde Zaloscer: "Von Anfängen kann keine Rede mehr sein, wir sind mitten drin, in der braunen Jauche". Zaloscer brüskiert sich darüber, daß Heidegger von der Entdeckung des Kunsthistorikers Meyer Schapiro, der in den 50er Jahren feststellte, Heidegger habe in van Goghs Schuhgemälde irrtümlich Bauernschuhe erblickt, in späteren, korrigierten Fassungen des Kunstaufsatzes keine Notitz genommen habe. Heidegger habe die künstlerisch dargestellten Schuhe für Bauernschuhe erklärt und basta. Typisch, meint die Autorin, denn nach Heidegger bestimme der Führer allein, was die Wahrheit sei und was nicht. So weiß sie aus Heideggers Aufruf "Deutsche Studenten" (1933/34) zu zitieren: "Nicht Lehrsätze und ’Ideen‘ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz … Heil Hitler!"

Gewiß war es Heideggers Schwäche, sich selbst für den Messias zu halten. Auch hätte Heidegger auf den Befund des Kunsthistorikers Meyer Schapiro ausdrücklich reagieren sollen. Nun hat sich Heidegger, arrogant wie er war, damit beschieden, 1960 einen Satz um vier, hier kursiv gesetzte Wörter zu ergänzen: "Nach dem Gemälde von van Gogh können wir nicht einmal feststellen, wo diese Schuhe stehen und wem sie gehören." Heidegger stellte in Abrede, daß mit Blick auf van Goghs Gemälde festgestellt werden könne, um wessen Schuhe es sich genau handelt. Schuhe, mit denen van Gogh durch die Welt spazierte, für Schuhe zu halten, mit denen eine Bäuerin über die Feldwege lief, macht dem Wesen nach keinen Unterschied. Für den Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmanns, der oft im FORVM veröffentlichte und in seiner Vorlesung "Philosophie der modernen Kunst" im Sommersemester 1996 auf Heideggers Kunstaufsatz einging, ist es denn auch vernachlässigenswert, ob van Goghs Gemälde nun Bauernschuhe oder van Goghs eigene Schuhe zeigt.

Nicht überall, wo jemand einen Schuh aus der bäuerlich-ländlichen Welt sieht, muß es sich um den Schuh einer Bäuerin handeln. Und noch weniger muß es sich um "braune Jauche" handeln, wo heute ein Redner auf Heideggers Philosophie eingeht, ohne gleich über sein Engagement für die Nationalsozialisten herzufallen. Wahrscheinlich spricht Frau Zaloscers mit Blick auf unsere Gegenwart deshalb so leichtfertig von "brauner Jauche", weil sich niemand mehr für ihre "rote Soße" interessiert.


 
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