© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
Vergangenheitsbewältigung: Zu den Gesprächen mit Martin Walser
Vergewaltigung der Gegenwart
Volker Kempf

Bitte schön, wo ist jetzt der Rechtsruck geblieben?" Diese Frage, genauer Gegenfrage, stammt von Martin Walser und ist schon eineinhalb Jahre alt. Sie bezog sich auf die Wiedervereinigung Deutschlands, mit der viele Intellektuelle einen nationalistischen Aufmarsch befürchteten. Nach den Bundestagswahlen sticht Walsers zitierte Gegenfrage aus dem Inhaltverzeichnis des soeben erschienenen Bandes "Ich habe ein Wunschpotential. Gespräche mit Martin Walser" besonders ins Auge.

Was fragte der Interviewer Michael Hübl Martin Walser, als er die nun zur Überschrift erhöhte Gegenfrage erhielt? Die Frage lautet: "Können Sie die Bedeutung umreißen, die Sie Deutschland als Nation, als Heimat beimessen? Vor allem im Hinblick auf ein vereintes Europa?" Walsers ausführliche Antwort: "Das ist doch eigentlich ganz unproblematisch. Die Intellektuellen, die gegen die deutsche Einigung waren, haben gelegentlich auch gesagt, daß jetzt eine Welle des Nationalismus entstehen würde. Bitte schön, wo ist der? Wo sind die Republikaner? Wo ist der Rechtsruck? Und wer ist ein eifrigerer Europäer als der CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl? Europa, das heißt die Relativierung des Nationalen, Aufhebung von Souveränitätspartikeln…"

Kohl ist nicht mehr Kanzler und Schröders "neue Mitte" nach links gerutscht. Deshalb ist Walsers kesse Gegenfrage heute aktueller denn je. Glückliche Hand, wer einen so unbestechlichen und aktuellen Geist für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vorgeschlagen hat.

Schauen wir uns das Interview etwas etwas genauer an, so sind frappierende Ähnlichkeiten zu Walsers Rede vom 10. Oktober zu erkennen. In dem eineinhalb Jahre zurückliegenden Interview wie auch in der sogenannten Sonntagsrede bezieht Walser mit der Begründung, Gewissensvorgänge könnten nicht normiert werden, Position gegen die Errichtung des Berliner Holocaust-Mahnmals.

Doch während er in seiner Rede seinen Standpunkt unter Rückgriff auf Heidegger und Hegel philosophisch untermauert, liegt im Interview der Schwerpunkt auf den Romanfiguren. "Als Figur entspringt er (Fritz Vritz aus dem Roman "Kaschmir in Parching"; Anm. V. K.) einer Konfrontation, die sich aus dem Umgang mit unserer Vergangenheit ergibt. Das ist sozusagen unser deutsches Spezialproblem. Das kann gar nicht aufhören, das entfacht immer neue Konfrontationen. Doch obwohl es sich hier um Gewissensprobleme schlechthin handelt, gibt es dazwischen eine grotesk anmutende Routine. Auch wenn sie gut gemeint sind, werden doch schauderhafte Vorschläge gemacht, von denen das Berliner Mahnmal zur Erinnerung an die Judenvernichtung vielleicht der krasseste ist. (…) Gewissen ist für mich das am wenigsten Normierbare überhaupt. Das muß man den Menschen selbst überlassen."

Der Roman "Kaschmir in Parching" ist eine Mischung aus Wahlkampf-Farce und Problemstück über die NS-Vergangenheit, heißt es in dem Gespräch mit der aussagekräftigen Überschrift "Tabus sind schlimmer als ich". Dem Interviewer Sven Michaelsen ist der Roman Anlaß, Walser zu unterstellen, dieser würde rechten Stammtisch darbieten, "nur schöner formuliert".

Walser schildert in "Kaschmir in Parching" einen Streit um den angemessenen Umgang mit der Nazi-Vergangenheit, den zwei Bürgermeisterkandidaten führen und den Michaelsen als Beleg für seinen Stammtischvorwurf anführt: "Sie", sagt der eine Bürgermeisterkandidat zum anderen, "wollen das Bekennen, Gestehen, Büßen zu unserem Hauptlebensinhalt machen. Dieses unmäßige Interesse für die bösen zwölf Jahre, das ist nicht Bewältigung der Vergangenheit, das ist Vergewaltigung der Gegenwart … Ganz Deutschland möchte ich verteidigen gegen Ihren selbstgefälligen Sadismus, gegen Ihre moralische Eitelkeit, gegen Ihre abstrakte Wut, gegen Ihre künstliche, unmenschliche Anständigkeit, die in Wirklichkeit nichts ist als eine Armut der Seele." Walser produziert also schön formulierte rechte Stammtischgespräche?

In der Tat zeigten sich viele brüskiert von Walsers "Sonntagsrede", mit der er letztlich nichts anderes gesagt hat, als in seinem hier zitierten Roman auch. Was antwortet Walser auf Unterstellungen, wie sie hier Michaelsen 1995 für den Stern äußerte? Walser bescheinigt dem Interviewer eine strafende Ungenauigkeit, die aus einer "linken Talkshow" stammen könnte. "Ich glaube", meint der heutige Friedenspreisträger, "daß Intellektuelle, die in Stern, Spiegel, Zeit und FAZ arbeiten, alles, was sie selber zu sagen nicht aufgelegt sind, zum Stammtisch erklären."

Wie gut und geistig überlegen muß sich jemand fühlen, der andere als verkappte Stammtischler abtut. Vor nichts ist heute die Angst größer als vor dem Denken, meinte Martin Heidegger vor einigen Jahrzehnten. Deshalb wird heute um so mehr geurteilt, spielen sich immer mehr zum Richter über andere auf, wozu, wie Walser in einem anderen Gespräch darlegt, keiner das Recht hat.

Walser besticht auch in seinen Interviews als ein freier Geist, dem jeder Pseudotiefgang abhold ist, der aber Gewissenhaftigkeit und Ehrlichkeit um so mehr zu schätzen weiß. Das zeigt auch das Gespräch mit Martin Hielscher, welches mit dem Satz überschrieben ist "Meine Leute (Figuren; Anm. V.K.) sind vielleicht ein bißchen abhängigkeitssüchtig." Es ist der einzige Originalbeitrag und umfaßt 35 Seiten. Walser plaudert über seinen neuen Roman "Ein springender Brunnen". Der Titel geht, so ist zu erfahren, auf Nietzsches "edelste" Wörtlichkeit zurück: "Nacht ist es: nun reden lauter all springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunen." Daraus ist nun "relativ trivial", wie Walser bescheiden erklärt, "die Vergangenheit so ein orientalischer Brunnen" geworden.

Mit der Leichtigkeit eines Unbeteiligten scheint der Schriftsteller in seinem neuen Roman aus dem "springenden Brunnen" der Vergangenheit zu schöpfen. Doch Walser schöpft keineswegs aus der erhabenen Perspektive eines nüchternen Analytikers, sondern aus seiner abgeklärten oder besser: schreibend herbeigeführten Annahme der eigenen Vergangenheit, die bis in die 30er Jahre zurückreicht. Die Annahme dieser Vergangenheit dürfte auch die Ursache dafür sein, daß gerade jene mit Argwohn auf Walser blicken, die die Vergangenheit nicht verwinden, sondern einfach verurteilen und damit wegschieben und verdrängen möchten.

Der Leser erfährt im vorliegenden Büchlein manches über die Figuren in Walsers Romanen; er erfährt aber auch einiges über Walser als Person oder darüber, wie die Öffentlichkeit auf ihn in der Vergangenheit reagiert hat. Walser galt zu Zeiten des Vietnamkriegs noch als Sympathisant der DKP. So ändern sich die aufgestellten Tabus und damit die geistige Großwetterlage. Gestern wurden die Tabus von jenen aufgestellt, die eine demokratiefeindliche Bedrohung von links kommen sahen, heute von jenen, die rechts ein Feindbild sehen und ausbauen. Deshalb sind, auch darin ist Walser zuzustimmen, die Kategorien links und rechts in der Sache so wenig aussagekräftig. Daß der Tabubrecher den Friedenspreis des Buchhandels erhalten hat, zeigt aber auch, daß das nebulöse geistig-politische Klima immer wieder von Sonnenstrahlen durchdrungen wird.

Rainer Weiss (Hrsg.): "Ich habe ein Wunschpotential." Gespräche mit Martin Walser, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 185 Seiten, 14, 80 DM


 
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