© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/98  13. November 1998

 
 
November 1918: Vor 80 Jahren zerbrach die Habsburg-Monarchie
Der Sturz des Doppel-Adler
Erich Glück

Am 11. November 1918 verzichtete der letzte Habsburgerregent Karl I. (1887–1922) ohne formelle Abdankung auf seinen Anteil an den Regierungsgeschäften. Tags darauf proklamierte die provisorische Nationalversammlung in Wien die Republik Deutschösterreich als Teil der deutschen Republik. In der Hauptstadt herrschte wie fast überall im von vier Kriegsjahren ausgebluteten Europa Chaos. Die vor dem Reichsratsgebäude (heute Parlament) an der Ringstraße aufgezogenen rot-weiß-roten Fahnen wurden von Rotgardisten und anderen Sympathisanten der sowjetischen Bolschewiki heruntergerissen, die weißen Mittelstreifen entfernt, die roten Felder zusammengeknüpft und als Fahnen der Revolution nach Lenins Vorbild gehißt. Als im heillosen Tumult die ersten Schüsse fielen, wurde Wien seinem von Karl Kraus angedichteten Ruf als "Versuchsstation für Weltuntergänge" ausnahmsweise gerecht. So sieht die Geburtsstunde des neuen Staates aus, dessen Grenzen niemand kennt und dessen folgenschwere gesellschaftspolitische und ökonomische Inhalte kein Mensch ahnt. Das zerrissene Staatssymbol wird sehr bald auch Signalwirkung für die innere Polarisierung des Landes haben: Monarchisten gegen Republikaner – Parlamentarische Demokratie gegen Totalitarismus – Nationalismus gegen Internationalismus.

Frankreichs Ministerpräsident Georges Clemenceau, mit der "la revanche"-Parole für das 1871 verlorene Elsass-Lothringen im August 1914 gegen das deutsche Reich Wilhelms II. in den Krieg gezogen, sprach im Zuge des Diktatfriedens von St.Germain-en-Laye 1919 vom Strandgut der Donaumonarchie zwischen Böhmerwald und Pannonischer Tiefebene; bei der geographischen Neuordnung des Kontinents lapidar von "le rest c’est Autriche" ("Der Rest ist Österreich"). Ein Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg apostrophierte der Historiker, Autor und TV-Intendant (Landesstudio Burgenland) Hellmut Andics das Österreich der Jahre 1918 bis 1938 als "den Staat, den keiner wollte".

"Euer Majestät können jetzt die österreichische Monarchie zerschlagen oder sie wiederaufrichten. Wenn sie einmal zerschlagen ist, wären auch Euer Majestät nicht mehr imstande, die zerstreuten Trümmer wieder zusammenzufügen und daraus eine Einheit zu bilden. Aber das Bestehen dieser Einheit ist notwendig. Sie ist unentbehrlich für das zukünftige Heil der Völker. Die österreichische Monarchie ist ein ausreichendes und notwendiges Bollwerk gegen die Barbaren", warnte bereits Charles Maurice de Talleyrand, Frankreichs wetterwendigster Grandseigneur der internationalen Diplomatie, nur drei Tage nach der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz im Dezember 1805 seinen Herrn Napoleon I.

Ahnung von kommender Auflösung und Zerstörung

Die genaue Definition des Begriffs "Barbaren" blieb Talleyrand schuldig. 113 Jahre später, am Ende des ErstenWeltkriegs, mit der Schreckensbilanz von 10 Millionen Toten, 20 Millionen Verwundeten und 6,2 Millionen Kriegsgefangenen sahen nicht nur die Sieger die europäische Situation anders.

Auch die Völker der seit dem Ausgleich mit Ungarn 1867 unter dem Etikett "k.u.k." firmierenden Monarchie meldeten sich ab. – Joseph Rot) nimmt an und erzählt, daß in der Donau-Monarchie schon lange vor 1914 ein großes Ahnen umging von kommender Auflösung und Zerstörung des wunderlich-unnatürlichen, wunderlich-reizvollen Mosaiks aus Völkern und Nationen, die sowohl eng beieinander wohnten wie sich hart im Raume stießen. Hier wäre vielleicht skeptisch anzumerken, daß aus dem, was eingetroffen ist, Ahnungen, dieses Eingetroffene werde eintreffen, leicht nach vorne zu datieren sind, daß, vom Endpunkt ihres Ablaufs betrachtet, eine Entwicklung schon in ihren Anfängen als auf diesen Endpunkt hinstrebend sich erkennen läßt. 1918 stellten Historiker fest, bereits die Staatsgründung Rudolphs von Habsburg sei faul gewesen und habe den Keim des Verfalls in sich getragen. Wie recht hatten sie! Knapp 600 Jahre später – und schon war auch der Krach unabwendbar da", kratzte Alfred Polgar, der Meister der "kleinen Form", in seiner Rezension zu Joseph Roths "Radetzkymarsch" 1932 auf das für ihn symptomatische "Filigranit", auf dem Geschichte geschrieben und geklittert werden kann. Rudolphs (1218–1291) dynastisches Machtfundament wurde genau 700 Jahre nach dessen Geburt zerstört. Der zum regierenden Anachronismus gewordene Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916; Kaiser ab dem Revolutionsjahr 1848, über das, was er nicht als "sehr schön" empfunden und was ihn zweifellos nicht "sehr gefreut" hätte: "Wenn die Monarchie zugrunde geht, dann wenigstens anständig!" – Sie ging nicht "anständig" in die Binsen, sondern sie zerbröckelte von innen her und erhielt an den Kriegsfronten 1918 den Todesstoß. Nach dem Verlust der oberitalienischen Gebiete, dem Ausscheiden aus dem Deutschen Bund nach der Schlacht bei Königgrätz 1866, dem Freitod seines einzigen Sohnes Kronprinz Rudolf (1889), der Ermordung seiner Frau Elisabeth (1898) und des Thronfolgers Franz Ferdinand aus der Habsburg-Este-Linie (1914), blieb dem vorletzten Habsburgerkaiser wenigstens der Anblick des völligen Untergangs seines Reiches erspart.

Nach dem Sonderfrieden von Brest-Litowsk mit Lenins revolutionärem Rußland vom 3. März 1918, bei dem die Mittelmächte auch im Sinne von Teilen der westeuropäischen Entente die Russen zur Abtretung ihrer Hoheitsrechte über Polen, Litauen, Kurland, Estland, Livland, Ukraine und Finnland zur Bildung eines Cordon sanitaire zwischen dem neuen bolschewistischen System und dem übrigen Europa zwangen, überstürzten sich an den Fronten des Krieges und der Diplomatie die Ereignisse. Der Zerfall des Bündnissystems der Mittelmächte ging beinahe so rasant vor sich, wie die Ausbreitung des martialischen europäischen Flächenbrandes in der ersten Augustwoche 1914. Am 18. Mai rief Thomas Masaryk im Namen der Exilregierung in Pittsburgh/Pennsylvania die tschechoslowakische Republik aus. Ihre offizielle Proklamation erfolgte am 26. Oktober 1918 in Prag. Am 26. September bat Bulgarien, am 18. Oktober das Osmanische Reich um Waffenstillstand. Damit war das Ende der Mittelmächte besiegelt. 48 Stunden vor der türkischen Petition um Waffenruhe hatte Karl I unter dem Einfluß von US-Präsident Woodrow Wilsons 14-Punkte-Programm zum Selbstbestimmungsrecht der Völker im "Manifest an meine getreuen österreichischen Völker" vergeblich, weil bereits viel zu spät, versucht föderalistische Strukturen einzuführen. Nun drängte auch der neue Reichskanzler Prinz Max von Baden die deutsche Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff zu einem raschen Kriegsende und richtete ein Waffenstillstandsangebot an das Weiße Haus in Washington. Nach der verhängnisvollen Meuterei, die sich von der kaiserlichen Flotte aus auf die deutschen Küstenstädte und das Binnenland ausbreitete, standen die Zeichen auf Kapitulation und Revolution. Nachdem das österreichische Armee-Oberkommando am 3. November in Padua die Waffenstillstands-Urkunde unterzeichnet hatte, stellte der Abgeordnete Philipp Scheidemann (SPD) am 9. November an einem Fenster des Berliner Reichstag stehend der Hohenzollernmonarchie den Totenschein aus: "Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs von Not und Elend werden noch viele Jahre auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhindern wollten, ist uns nicht erspart geblieben. Der Kaiser hat abgedankt. Er und seine Freunde sind verschwunden. Das Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue. Es lebe die Republik!" Der Weg führte allerdings nicht in die innere Befriedung, sondern schnurgerade in die Revolution und in den Bürgerkrieg. Die "Räte-Revolutionäre" in Berlin, München und anderswo hatten die Signale aus Petrograd (St. Petersburg) und Moskau gehört, die Völker noch nicht.

Am 11. Oktober, als in Wien Karl I. seine Regierungsgeschäfte zurücklegte, willigte die deutsche Heeresführung im Wald von Compiegne in den Waffenstillstand ein und akzeptierte die Ungültigkeit des Friedensschlusses von Brest-Litowsk. Das nordfranzösische Waldstück mit seinem dort abgestellten Eisenbahnwaggon sollte 1940 noch einmal eine historische Rolle spielen, als die deutsche Wehrmacht nach ihrem siegreichen Westfeldzug den Spieß umdrehte, und das besiegte Frankreich das Waffenstillstands-Dokument unterfertigen mußte.Schon am 21. Oktober war der 1911 gewählte Reichsrat mit den Mandataren Deutsch-Österreichs, Deutsch-Böhmens und Deutsch-Mährens im niederösterreichischen Landhaus in Wien als "Provisorische Nationalversammlung des selbständigen Deutsch-österreichischen Staates" zusammengekommen. Die Koalition aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen, Deutschnationalen und Liberalen bildete als "Staatsrat" die provisorische Regierung. Das Kabinett trat unter dem Vorsitz des Christlichsozialen Heinrich Lammarsch, der als Völkerrechtsdozent international einen guten Ruf besaß, am 22. Oktober die Nachfolge der Kurzzeit-Regierung Baron Max Hussarek-Heinleins an. Hussarek hatte erst am 20. August 1918 Ernst von Seidler in dieser Funktion abgelöst. Am 12. November übernahm nach Kaiser Karls Rücktritt der Staatsrat auch offiziell die Regierungsgewalt. Am 16. November wurde nach der Bildung einer neuen Regierung in Budapest die Ungarische Republik proklamiert. Damit war auch per Dekret der Doppeladler gestürzt. Die Doppelmonarchie, von Wiens Bürgermeisterlegende Karl Lueger, Gründungsvater der christlich-sozialen Partei als "Unglück", von Karl Renner, erster Staatskanzler der Ersten – und erster Bundespräsident der Zweiten Republik, als "verdoppelte Halbheit" bezeichnet, war endgültig Geschichte geworden.

"Die junge Republik Deutschösterreich stand von Anfang an im Zeichen drückender politischer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten, die sich im Jahre 1919 eher verschärften als verringerten", spielt Erich Zöllner in seinem Hauptwerk "Geschichte Österreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart" (1974) auf die schwere Erblast an, wie das Friedensdiktat vom 10. September 1919 von St. Germain-en-Laye deutlich genug manifestieren sollte. Dem politischen Chaos der Novembertage 1918 folgten ein langer Hungerwinter und die systematische Besetzung des Landes. Sie gab einen ersten Vorgeschmack auf die zehn alliierten Okkupationsjahre (1945–55) nach dem Zweiten Weltkrieg. In Wien wurde ein britisches Militärkontigent zur Überwachung der Demobilisierung der k.u.k. Armee, zur Sicherstellung der Demontage der Rüstungsbetriebe und zum Schutz der kaiserlichen Familie vor deren Exilierung auf Madeira stationiert. Unmittelbar nach dem Jahreswechsel 1918/19 trafen über Kärnten kommend auch US-Einheiten in der Bundeshauptstadt ein. Zu Kriegsende hatten schon italienische Truppen die Waffenstillstandslinie überschritten, um via Trient, Bozen und dem Brenner nach Innsbruck und Hall in Tirol vorzudringen. Da die Italiener nach dem Verlassen des 1882 mit Berlin und Wien geschlossenen Dreibundes zu Kriegsbeginn die Fronten gewechselt und im Londoner Geheimvertrag von 1915 u.a. Südtirol zugesichert bekommen hatten, gab es zwischen Brenner und Salurn keinen Abwehrkampf. Italien galt als Siegerstaat und seine Truppen hielten Nordtirol zwei Jahre lang besetzt. 1919/20 zogen die Sieger unter der Regie Frankreichs in den Pariser Vororten Versailles (Deutschland), St.Germain (Österreich), Neuilly (Bulgarien), Trianon (Ungarn) und Sevres (Türkei) mit ihren kompromißlosen und kurzsichtigen Friedensdiktaten die neuen Grenzen Europas und des Orients.

Politisch-militärisches Pulverfaß mit Sprengkraft

Sie legten jedoch auch die Lunte zu einem politisch-militärischen Pulverfaß mit ungleich mehr Sprengkraft als die fatalen Konsequenzen aus den Todesschüssen auf das österreichische Thronfolgerpaar am 28. Juni 1914, dem äußeren Anlaß für den Kriegsausbruch. "In Europa lachte man schon über die wurmstichige alte Galeone namens Österreich. Diese Galeone wollte noch einmal beweisen, daß sie sehr wohl seetüchtig war. Sie tat es an ihrem wundesten Punkt: Serbien", ätzte der britische Publizist und Historiker Gordon Brook-Shepherd über Habsburgs Abgesang. Sein Landsmann Robert Service, Professor am Institut für slawistische Studien der University of London zum Kriegsausbruch: "Die geheime Hinterzimmer-, Palast- und Prestigepolitik nach dem Ultimatum Österreichs an Serbien führten von der Julikrise geradewegs in die Katastrophe!" – Mit dem ominösen Paragraphen 231 hatte Clemenceaus Frankreich bei seinen Verbündeten in Versailles durchgesetzt, daß Deutschland als Hauptschuldigen an jenem Ereignis, das in Europa die Lichter ausgehen ließ, vor der Welt anprangerte.


 
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