© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Geheimdienste: Der Verfassungsschutz gehört als Relikt des Kalten Krieges abgeschafft
Urlaub für Schlapphüte
Klaus Kunze

Neun Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks gehört endlich eines der Relikte des Kalten Krieges pietätvoll beigesetzt: der Verfassungsschutz. In den 50er Jahren sollten Verfassungsschutzbehörden verhindern, daß Verfassungsorgane im Kontext der konkreten kommunistischen Bedrohung von umstürzlerischen Absichten überrascht werden. Stasi-Unterlagen bestätigen die begründete Furcht und sprechen von damals Tausenden von SED-Spitzeln in Chefetagen von Politik und Wirtschaft.

Heute aber ist dieses Instrument ein Symbol deutschen Anachronismus. Kein europäisches Land verfügt über eine dem Verfassungsschutz vergleichbare Institution. Deutschland wird bereits belächelt wegen seines negativen Sonderweges einer realexistierenden Demokratiebehörde. Demokratie ist ein offener Meinungsbildungsprozeß und darf nicht durch eine Geheimbürokratie auf subtile Weise kontrolliert werden. Das versucht der Verfassungsschutz mittels der "Verfassungsschutzberichte" in den letzten Jahren in verstärktem und penetrantem Maße. Generationen von Studenten gab er vor, welche Worte sie zur Vermeidung beruflicher Nachteile nicht im Munde führen und in welcher Gruppe sie sich nicht engagieren sollten. Mit der bürokratischen Fernlenkung könnte jetzt Schluß sein: Der Europäische Gerichtshof erklärte das auf Einschätzungen des Verfassungschutzes beruhende Berufsverbot einer Lehrerin für menschenrechtswidrig.

Das Gesamtkonzept "Verfassungsschutz" mit seinen V-Leuten, der nachrichtendienstlichen Observation und der kindischen Geheimnishuberei ist überholt und paßt nicht zu einer offenen Gesellschaft. Als Rest verbleibt ein Mißtrauen gegenüber abweichenden Meinungen, verbunden mit lustvollem Bürokratismus und Überwachungswahn. In der Tradition der absolutistischen Zeit des Vormärz meint der Verfassungsschutz, geistige Entwicklungen ließen sich amtlich mit der Strichliste in der Hand verhindern.

Es ist nicht schwer für Bürokraten, überall Verfassungsfeinde zu finden, wenn man "linke" oder "rechte" Bösewichter schon an Begriffen wie "Sozialismus" oder "Vaterland" erkennt. Einer substantiellen wissenschaftlichen oder politischen Auseinandersetzung stehen solche peinlichen "Erkenntnisse" bloß im Wege. Bei scheinbar amtlicher Objektivität findet der Verfassungsschutz vor allem dort Extremisten, wo er vom jeweiligen Minister auf die Suche geschickt wird. Wechselt der Minister, wechseln die Beobachtungsobjekte.

Oppositionsgruppen mit nachrichtendienstlichen Mitteln auszuspähen, hat sich im Medienzeitalter überholt. Zeitungen und Fernsehsender sind schneller und besser informiert als die entsprechenden Behörden. Was bleibt, ist das Mittel des "An-den-Pranger-Stellen", die öffentliche Denunziation eines politischen Gegners durch den amtlich verkündeten Verfassungsschutzbericht.

Der durch unsere Gesetze vorgeschriebene Weg zum demokratischen Machtgewinn zwingt jede Opposition, strukturell so zu werden, wie die bisher erfolgreichen Parteien schon sind. Es kann in der Massendemokratie keine erfolgreiche heimliche Neigung zur Revolte geben. Wozu also die "nachrichtendienstliche Beobachtung"?

Nach den jahrzehntelang erhärteten Maßstäben westdeutscher Verfassungsschützer zählen Jungminister wie Trittin oder Fischer ebenso zum festen "Kundenstamm" des Verfassungsschutzes wie die frischgewendeten PDS-Minister in Mecklenburg-Vorpommern. Doch immer weniger Wähler interessiert das.

Eine Bundesdrucksache 12/6000 vom 3.11.1993 hatte den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission enthalten. Diese schrieb den offenherzigen Satz: "Probleme der Verfassung und der Verfassungsreform sind letztlich politische Machtfragen." Damit ist zum Sinn des Verfassungsschutzes alles gesagt. Der neue Bundesinnenminsiter Schily sagt deshalb zu Recht: Die Beobachtung der PDS ist absurd, nachdem sie regiert. Soll sie sich selbst beobachten? Diese Beobachtung jetzt zu beenden, heißt einzugestehen, daß der Verfassungsschutz bloß ein Instrument der Verdächtigung des Gegners ist.

Die Tugenden jedes guten Geheimdienstlers sollten besser genutzt werden: Das Bundesamt könnte als Abteilung zur Bekämpfung organisierter Kriminalität dem BKA und die Landesämter den jeweiligen LKAs angegliedert werden. Dort könnten ihre Beamten wirklich schützen: Nicht ihren Dienstherren vor dem öffentlichen demokratischen Diskurs, sondern alle Bürger vor konkreten Gefahren.


 
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