© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Kolumne:
Unterschiede
von Klaus Motschmann

Am Anfang dieser Kolumne steht eine (zunächst) absurd anmutende medizinisch-biologische Feststellung: Es gibt auf dieser Welt keine Menschen; es hat sie nie gegeben, und es wird sie nie geben. Noch niemand hat je einen wirklichen Menschen gesehen. In keinem medizinischen Lehrbuch der Welt ist er beschrieben.

Die Erklärung ist sehr einfach. "Mensch" ist ein abstrakter Begriff. In Wirklichkeit gibt es immer nur Männer und Frauen. Selbstverständlich gibt es zwischen Männern und Frauen ein Höchstmaß an Gemeinsamkeiten im Körperbau, der Funkionsweise der (meisten) Organe usw.; aber eben auch den entscheidenden und deshalb wesentlichen "kleinen Unterschied". Selbst die faschistoiden "uni-sex-VerfechterInnen" werden nicht bestreiten, daß es noch immer angebracht ist, diesen Unterschied nicht nur im medizinischen, sondern auch im gesellschaftlichen Sinne zu beachten, um gravierende Fehlentscheidungen zu vermeiden. Das Wesentliche des "Menschen", des Mannes und der Frau erschließt sich eben nicht aus der Quantität der Gemeinsamkeiten, sondern aus der Qualität des "kleinen Unterschieds".

Warum diese Erinnerung?

Weil neuerdings wieder auffällig viel von "Gemeinsamkeiten" aller möglichen politischen und gesellschaftlichen, insbesondere auch religiösen Gruppen angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit gesprochen wird. Die Rede ist dann meistens von einer "Verantwortungsgemeinschaft" aller "Menschen guten Willens" für "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung". Dabei wird – teils bewußt, teils unbewußt – übersehen, daß es sich samt und sonders um abstrakte Begriffe handelt (ähnlich dem Begriff "Mensch"), die sich immer nur teilweise gemeinsam verwirklichen und bewahren lassen, aber niemals ganz; jedenfalls so lange nicht, wie die qualitativen Unterschiede zwischen den Religionen, Ideologien und Weltanschauungen bestehen und ausdrücklich gepflegt werden. Oder weshalb sprechen wir von einer pluralistischen bzw. einer multikulturellen Gesellschaft? Sicher gibt es ein hohes Maß an zeitweiligen "Gemeinsamkeiten", aber eben auch an dauerhaften Unterschieden in einer derartigen Gesellschaft. Sie sollten nicht verschwiegen werden, wenn man zu einem realistischen Politikverständnis gelangen will. Es hat sich in Deutschland auch in dieser Hinsicht eine Kultur der Verdrängung entwickelt, aus der früher oder später schwere Enttäuschungen erwachsen, weil man Täuschungen erlegen ist. Deshalb kommt es heute mehr denn je darauf an, den einfachen Rat Platons zu beachten: "Die Ähnlichkeiten der Dinge und ihre Unähnlichkeiten genau auseinanderhalten."


 
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