© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Erziehungsauftrag
von Werner Olles

Die Ausweisung des türkischen Nachwuchskriminellen "Mehmet" hinterläßt einen bitteren Beigeschmack. Denn auf die Anklagebank hätte vor allem jene pädagogische Modebewegung der letzten 30 Jahre gehört, die viel zur gegenwärtigen Verunsicherung von Eltern und Erziehern beigetragen hat, und die selbst vor ausländischen Elternhäusern nicht halt macht.

Haben in den Familien längst die Kinder die Regierung übernommen, und zwar "in Richtung Terrorregime", wie die Süddeutsche Zeitung schreibt? Eltern und Lehrer trauen sich nicht mehr spontan-intuitiv erzieherisch zu handeln, statt dessen geht es nur noch um nervendes Herumverhandeln um Fernsehen, Essen, Kleidung, Hausaufgaben, "Kohle" etc. In dieser Atmosphäre haben viele den Mut zu einem berechtigten "Nein" verloren.

Nach einer Spiegel-Umfrage glauben indes jedoch vier von fünf Befragten, daß es sich bei der antiautoritären Erziehung um einen exotischen Irrläufer der Pädagogik handelt. Mit der Großvätergeneration vertreten diese Meinung vor allem die 17-25jährigen. Die Opfer des Mythos von der grenzenlosen Freiheit klagen heute mehr Erziehung ein. Gleichzeitig erfolgen politische Vorstöße, etwa jener der CSU, der Eltern das Kindergeld kürzen will, wenn ihre Sprößlinge trotz Aufforderung in der Schule zu erscheinen, lieber nachts Autos knacken. Notwendige Unterstützung signalisieren Politiker, die sich lange genug fein aus all dem herausgehalten haben. Bundespräsident Herzog spricht im Hinblick auf unsere Schulen von "Schmuseecken", Arbeitgeberpräsident Hundt bezeichnet die Pädagogik der siebziger und achtziger Jahre als "Schmusepädagogik".

Zu Rate zu ziehen sind aber vor allem die guten Erfahrungen der angelsächsischen Länder mit ihren klaren Maßstäben für Verantwortlichkeiten: Null Toleranz bereits für Vergehen wie Graffitysprayen und Kaufhausdiebstähle, Herabsetzung der Strafmündigkeit, bei Verwahrlosungsgefahr Einweisung in geschlossene Erziehungsheime, die bei uns in den siebziger Jahren abgeschafft wurden, Ausgangssperre ab Sonnenuntergang in zahlreichen amerikanischen Großstädten für Jugendliche unter 16 Jahren. Erziehungswissenschaftler wie Wolfgang Brezinka, in den siebziger Jahren als konservativer Theoretiker abgewertet, fordern heute wieder die Rückkehr zu einer Werteorientierung, zum Mut zur Erziehung und zur Autorität und zur Aufhebung der Nivellierung zwischen Kindern und Erwachsenen.

Die Wiederentdeckung scheinbar "überholter" pädagogischer Tugenden ist hoffentlich ein erster Schritt hin zu mehr Erziehung und Disziplin. Nur auf diesen Werten wachsen auch Toleranz und soziale Fähigkeiten, ohne die eine Gesellschaft zum Tode verurteilt ist.


 
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