© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Demographischer Trost
Karl Heinzen

Die Schulkinder in Jena sind heute, so das Institut für Humangenetik und Anthropologie der ärztlichen Universität, etwas größer als vor zehn Jahren, vor allem aber sind sie beleibter: Die Zahl derjenigen, deren Body-mass-Index, ein üblicher Maßstab für Übergewicht und Fettsucht, aus dem Rahmen fällt, nimmt zu. Die neuen Lebensgewohnheiten, etwa freier Zugang zu üblichen Warteschlangen, werden auch im Straßenbild wahrnehmbar. Diesbezüglich kann man sich als Westdeutscher heute selbst im Neuen Osten heimisch fühlen, allerdings mangelt es noch an dem gewissen athletischen Kontrast, den eine spürbare Immigration setzt.

Ist damit bloß ein Erfolgsrezept, das Winston Churchill seinen Deutschen angedeihen ließ, auf diejenigen übertragen worden, die der Eiserne Vorhang so lange Jahrzehnte zur Stillung des Wunsches nach Übersättigung auf den Postweg verwies? Nur jemand, der seelisch in den Zeiten der Vor-Krenz-PDS beheimatet ist, mag sich zu solchen Vergleichen herablassen.

Die Pro-Kopf-Gewichtszunahme ist vielmehr ein Trend und damit politischer Einflußnahme entzogen. Sie eint die Industriegesellschaften und könnte vielleicht sogar ein Bewertungskritertum dafür abgeben, wie weit eine Nation zivilisatorisch vorangeschritten ist. Wann wird zum Beispiel ein Schwellenland zur vollgültigen Industrienation? Dies kann wohl kaum alleine anhand von abstrakten Sozialprodukten entschieden werden, bei denen man sowieso nie genau ermessen kann, wie solide die Datenbasis jeweils ist. Anstatt die wirtschaftlichen Aktivitäten mühsam aufzuaddieren, wäre es sicher unbürokratischer und zugleich humaner, die Gewichte aller Körper der Gesellscha£t zum poids général zusammenzutragen und denn erneut rechnerisch auf die einzelnen Köpfe zu verteilen. Alltagserfahrung und politische Entscheidungsgrundlage hätten die Chance einer neuerlichen Versöhnung: Dies kann auch der demokratischen Entwicklung rund um den Globus nur guttun.

Längst ist sich im übrigen die empirisch orientierte Demokratieforschung eines Zusammenhanges zwischen der Leibesfülle und der Bereitschaft, andere am politischen Leben partizipieren zu lassen, bewußt. Wer selber allzu deutlich vom olympischen Ideal abweicht, ist oft auch toleranter gegenüber Mitmenschen, deren Äußeres sich von der Norm, die einer Gesellschaft vorschwebt, gegebenenfalls sogar deutlich unterscheidet. Korpulente sind meistens physisch unfähig, radikale Lösungsansätze in die Tat umzusetzen, und passen ihr Denken dieser Einsicht in das ihnen Mögliche bereitwillig an.

Insofern verbleibt den Menschen in den neuen Bundesländern, aller Protestwählerei zum Trotz, kaum Hoffnung, ihrer Regierung aber ein demographischer Trost: Der Bevölkerungsrückgang wird durch die Gewichtszunahme mehr als ausgewogen.


 
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