© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Bündnis 90/Die Grünen: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit nach der Regierungsbeteiligung
Abschied vom grünen Mythos
Volker Kempf

Rot-Grün ist gewählt worden, weil einerseits der schleichende Niedergang Deutschlands in der Luft zu liegen scheint, andererseits aber der sozialdemokratische Allparteienkonsens nicht aufgebrochen werden sollte. Entsprechend positiv äußerte sich DGB-Chef Schulte über die ökologisch-sozialen Steuerreformpläne, während Wirtschaftsverbände eher ablehnend reagierten. Umweltverbände wiederum sehen in der anvisierten Ökosteuerreform eher ein Mängelwesen als eine zielgerichtete, konsequente und in sich schlüssige Neuerung. Wie auch immer das Ergebnis ausfallen wird: Die ökologische Steuerreform haben sich die Bündnisgrünen als ihr Herzensanliegen auf die Parteifahne geschrieben. Beinahe entsteht der Eindruck, linksalternative Demonstrationen hätten die ökologische Marktwirtschaft erfunden. Ein TV-Spot, der am Sonntag in der ARD im Rahmen einer Talkrunde mit Sabine Christiansen zur ökologischen Steuerreform gesendet wurde, zeigte denn auch Bilder aus den 80er Jahren: wild gewordene Demonstranten reißen Bauzäune um. Eine Stimme kommentiert: "Sie zerschlugen nicht nur Bauzäune, sondern entwickelten auch Konzepte: die ökologische Steuerreform." Welch ein Mythos! Den linksautonomen Atomkraftgegnern galten Umweltpolitiker wie Herbert Gruhl als zutiefst suspekt, bisweilen gar als ökofaschistisch. Daß letzterer es war, der in den 80er Jahren mit seiner Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) als erster Hans Christoph Binswangers Modell von einer ökologischen Steuerreform in die parteipolitische Diskussion einbrachte, interessierte nicht.

Noch im Frühjahr 1998 wurden bei einer Demonstration gegen den Castor-Transport Vertreter der bürgerlichen ÖDP bzw. ihres linkskatholischen Arbeitskreises "Christen und Ökologie" handgreiflich dazu bewegt, den Demonstrationszug zu verlassen. "Ökofaschisten" dürfe kein Forum gegeben werden. Die Bündnisgrünen sind den Autonomen hingegen unverdächtig. Eine parteiinterne, 1996 veröffentlichte Umfrage des grünen Landesverbandes in Nordrhein-Westfalen macht dies auch plausibel. Schließlich brachte die Mitgliederbefragung ans Licht, daß 20 bis 25 Prozent der Mitglieder PDS wählen würden, wenn es die Grünen nicht gäbe.

Das Paradigma vom Antifaschismus lebt noch immer und beinhaltet, daß Umweltprobleme nur sozialistisch gelöst werden könnten. Daß damit kein Staat zu machen ist, ist sicher nicht nur dem realpolitischen Flügel der Alternativpartei klar. Dennoch muß natürlich der linksfundamentalistische Flügel über politische Kompromisse und personelle Entscheidungen bedient werden. Gerade die Frage nach der Nutzung der Atomtechnologie verbindet sich für linke Parteistrategen vorzugsweise mit Fragen nach dem Großkapital und dem Polizeistaat. Entsprechend wird auch auf Anti-AKW-Demonstrationen argumentiert und mit Jürgen Trittin ein Umweltminister berufen, der in erster Linie ein Linker ist. Der antinukleare Grundkonsens mag die Grünen ideell zusammenhalten; ihren ökologischen Flügel hat die Partei nicht halten können. Die Arbeitsgemeinschaft ökologische Politik (AGÖP) verließ in Gestalt der ÖDP schon bald nach der Gründung der Grünen die "Umweltpartei". Daher kann man mit Rudolf van Hüllen, der 1990 unter dem Titel "Ideologie und Machtkampf bei den Grünen" eine umfassende Studie vorgelegt hat, davon sprechen, daß der "Ökologismus mit der Dissoziation des bürgerlich-ökologischen Flügels in Konkurs" ging. Dies hindert Bündnisgrüne nicht, das Ökosteuermodell als ihre Erfindung auszuschildern bzw. ausschildern zu lassen, um ihre sozialpolitischen Vorstellungen grün zu verkaufen. Mit anderen Worten: Der grüne Kern hat sich verflüchtigt, während er um so mehr als nützlicher Mythos gepflegt wird.

Daß ein ökologisch wenig kompetenter Jürgen Trittin ohne große öffentliche Kritik Umweltminister geworden ist, ist nur damit zu erklären, daß die Grünen, egal um wessen Person es sich handelt, per se als grün gelten. Wenig verwunderlich auch, daß namhafte Umweltverbände mit der am Wochenende zu Ende gegangenen Klimakonferenz in Buenos Aires ihre Unzufriedenheit bekundeten, während der "grüne" Trittin über die beschlossenen Arbeitsprogramme zur Reduktion von klimarelevanten Emissionen Genugtuung demonstrierte. Der Widerspruch zwischen dem ökologischen Mythos und der grünen Realpolitik scheint mit der Regierungsverantwortung allmählich deutlich erkennbar hervorzutreten.

Zum ökologischen gesellt sich ein zweiter Mythos, welcher innerparteilich ebenfalls bedient werden muß, andererseits aber den eigenen realpolitischen Intentionen im Wege ist: der Mythos von der basisdemokratischen "Partei neuen Typs". Dieses Konzept war ursprünglich als innerparteiliches Organisationsprinzip gedacht, das aber auch auf das politische System der Bundesrepublik gemünzt werden sollte. Ein Wahlplakat vom September 1998 verkündet: "Demokratie wagen, nur mit uns". Auf der anderen Seite wurde wenige Wochen zuvor die rot-grüne Landesregierung von Nordrhein-Westfalen vom Landesverfassungsgerichtshof in Münster zur Überprüfung der kommunalen Fünf-Prozent-Hürde angemahnt – in den meisten anderen Bundesländern besteht die Hürde wegen der Wahrung der Chancengleichheit von Parteien nicht mehr. Die Grünen ließen sich, wie ihr Koalitionspartner auch, rasch Argumente einfallen, weshalb das Land eine Bastion für die Beibehaltung der kommunalen Fünf-Prozent-Klausel bleiben sollte. "Mehr Demokratie" endet dort, wo sie den eigenen Interessen nicht nützt. So schnell werden Prinzipien über Bord geworfen, die auf Plakaten weiter gepflegt werden.

Verständlicherweise blieb auch das basisdemokratische Diktum von der Trennung von Amt und Mandat von den realpolitischen Erfordernissen nicht unangefochten. Sein Mythos blieb aber bestehen und bewirkte auf dem 11. Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen am 27. Oktober 1998 einen Kompromiß zwischen den Realos und den Mythenpflegern, dem zufolge ein grüner Minister oder Staatssekretär sein Abgeordnetenmandat nun behalten darf. Dafür muß aber eine Gesetzesnovelle in den Bundestag eingebracht werden, wonach künftig generell das Abgeordnetenmandat ruht, wenn jemand Minister oder parlamentarischer Sekretär ist.

Basisdemokratische Mythen leben in der Partei auf, wenn es darum geht, möglichst alle Menschen in Deutschland wählen zu lassen. Dafür wird Ausländern einvernehmlich die doppelte Staatsbürgerschaft nachgetragen. Daß "einfache" deutsche Staatsangehörige in der Wahrnehmung ihrer Rechte und Pflichten gegenüber Doppelstaatlern benachteiligt werden, interessiert nicht.

Ein weiterer Mythos der Alternativpartei ist der Glaube an die "Einheit der grünen Bewegung". Ökologie gilt diesem Mythos zufolge per se als links. Dabei ist es der größte Widerspruch der grünen Partei und weiter Teile der Umweltbewegung, links und ökologisch sein zu wollen, wie der britische Soziologe Anthony Giddens im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches "Jenseits von Links und Rechts" bemerkt. Der Blair-Berater Giddens sieht mit der Ökologiefrage die Prämissen der Aufklärung in Frage gestellt, wonach die Zunahme des Wissens zu einer immer sichereren Zukunftsgestaltung führt: "Der Konservatismus wird in einer immer deutlicher post-traditionalen Gesellschaft selbstwidersprüchlich. Meine Antwort darauf in ‘Jenseits von Links und Rechts’ lautet: Lang lebe der Konservatismus! Denn viele der von den heutigen Konservativen aufgegebenen Aspekte des Konservatismus besitzen eine direkte Relevanz für unsere aktuellen politischen Dilemmata. Was ich als ‘philosophischen Konservatismus’ beschreibe, nimmt seinen Ausgang von ökologischen Themen."

Die Union hat sich in den 70er Jahren die Zukunftsthemen von den Grünen wegnehmen lassen. Aufgabe der Union müßte es sein, Naturschutz wieder als ein konservatives Feld zu besetzen und durch den Traditions- und Heimatschutz zu erweitern. Dabei geht es nicht darum, sich zu den Fortschrittsfeinden zu gesellen, sondern darum, die konservative Fortschrittskritik ernst zu nehmen, um sich keinen Illusionen hinzugeben. Der CSU scheint das Nebeneinander von moderner Technologie, Traditionsbewußtsein und umweltpolitischer Innovation vergleichsweise gut zu gelingen. Die CDU hat ähnliches bisher versäumt.

Während die Bündnisgrünen in Konfrontation mit der Realpolitik über ihre eigene Widersprüche stolpern, wird die Union auf der Oppositionsbank darüber nachdenken können, was konservativ eigentlich heißt und wie damit Politik zu machen sein könnte. Bei den Bündnisgrünen sollte die CDU die Antworten jedoch nicht suchen. Nichts wäre für die Union törichter, als in ihrer Lage auf die Bündnisgrünen als möglichen Koalitionspartner zu spekulieren. Die Bündnisgrünen sind nicht ohne ihre Mythen und Selbstwidersprüche zu haben.


 
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