© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Ostpolitik: Wolfgang Seiffert, Hochschullehrer an der Universität Moskau, über die Rubelkrise, die deutsch-russischen Beziehungen und die Hintergründe für den Wiederaufstieg der PDS
"Rußland muß politisch seinen eigenen Weg gehen"
Dieter Stein

Wie bewerten Sie die wirtschaftliche Lage in Rußland nach der August-Krise?

Seiffert: Am 17. August kam es zu der großen Abwertung des Rubel. Sie hat deutlich gemacht, wie kompliziert die wirtschaftliche Situation im industriellen Bereich ist. Hier liegen viele Betriebe brach bzw. arbeiten nicht voll. Was fehlt, ist eine eigenständige Nahrungsmittelgüterindustrie und eine eigene Konsumgüterindustrie, so daß auf beiden Gebieten bis zu diesem finanziellen Crash unglaublich viele Lebensmittel aus Westeuropa und Amerika importiert worden sind. Das führte zu der grotesken Erscheinung, daß beispielsweise in Workuta, das in der ewigen Eiszone liegt, am Kiosk bayerischer Joghurt verkauft wurde. Totaler Unsinn!

Pumpt die EU überschüssige Waren zu Dumpingpreisen auf den osteuropäischen Markt?

Seiffert: Die Dumpingpreise mögen eine Rolle spielen. Vor allem aber haben die Lebensmittelexporteure dort eben einen riesigen Markt vor sich. Es gab und gibt auch in Rußland eine Vorstellung, wie kurz vor und nach der Wiedervereinigung bei den DDR-Bürgern, die eigenen Produkte seien schlecht und die aus dem Westen gut.

Die wirtschaftlichen Veränderungen seit dem 17. August können Sie daran ablesen, daß allein in der Stadt Moskau mehr als 200.000 Menschen neu arbeitslos wurden. Meist aus den Sektoren Banken, Handel, Mittelstand. Sie sehen es auch daran, daß an auffallend vielen Autos in der Windschutzscheibe ein Schild hängt, daß der Wagen zum Verkauf steht.

Was ist denn seit Gorbatschows Perestrojka wirtschaftspolitisch falsch gelaufen?

Seiffert: Insbesondere dieser Gajdar glaubte, man müsse das alte System total zerstören, weil man ansonsten zu keinem neuen komme. Man kann aber nicht in einem Land, daß 70 Jahre staatliche Industrie hatte, über Nacht die Institutionen zerstören, ohne eine Alternative zu haben. Dann hat man auch noch mit der Privatisierung mittels der "Voucher" begonnen. Dies war der Startschuß dafür, daß sich Ganoven die Anteile der privatisierten Unternehmen unter den Nagel rissen. Jeder Staatsbürger – ob Kind, Greis, Mann oder Frau – bekam einen Voucher über 10.000 Rubel. Damals noch sehr viel Geld. Mit diesen Gutscheinen sollte man Aktien von staatlichen, aber privatisierten Unternehmen kaufen können. Nur wußte der Durchschnittsbürger damals nicht, was er mit so einer Art Wertpapier anfangen soll. Als dann auf einmal an den Metro-Ausgängen junge Leute standen mit dem Schild "Wir kaufen Ihre Voucher", haben viele ihre Gutscheine an diese Leute verkauft. Ein Voucher von 10.000 Rubel für 2.000 Rubel bar auf die Hand war den meisten Leuten lieber als ein Stück Papier, bei dem sie nicht wußten, was sie damit machen sollten. Die Käufer der Voucher waren aber auch nur Agenten der Leute, die das eigentliche Geld besaßen. Man hätte die Privatisierung anders gestalten müssen. Viele Unternehmn sind auch überhaupt noch nicht privatisiert. Erst 57 Prozent der staatlichen Industrie sind von Privatisierung bisher betroffen.

Was hätte man denn anders machen sollen?

Seiffert: Drei Hauptfehler wurden gemacht: Man hat die riesigen Konzerne einfach in Aktiengesellschaften umgewandelt, ohne diese großen Firmen in Wettbewerbseinheiten kleinerer Größe aufzuteilen und dann in Aktiengesellschaften oder GmbHs umzuwandeln. Man hat das umgekehrt gemacht. Bei GASPROM, diesem riesengroßen staatlichen Unternehmen, hat man beispielsweise Aktiengesellschaft drangeschrieben, doch intern hat sich nichts geändert. Der zweite Fehler war, daß man unter dem Einfluß der sage und schreibe 30.000 westlichen Berater, die man vor allem von Amerika und der EU nach Rußland geholt hat, die "Chicago-Schule" des reinen Liberalismus verkündet und praktiziert hat. Alles müsse privat sein, sagte man, die Preise müssen frei sein und soziale Belange spielten dabei überhaupt keine Rolle. Es war auch vollkommen falsch, daß man den Erwerb von Devisen unbegrenzt freigegeben hatte. Bis jetzt kann jedermann in Rußland – wenn er Rubel hat – diese unbegrenzt in Dollar oder D-Mark umtauschen. Wenn sie den Menschen unbegrenzt die Möglichkeit geben, ihr Geld in eine fremde Währung umzutauschen und das Vertrauen in die eigene Währung ohnehin nicht übermäßig ausgeprägt ist – dann zerstören sie die eigene Währung.

Ist eine Beschränkung überhaupt machbar?

Seiffert: In Westdeutschland konnte man zwischen 1949 und 1961 nur einmal im Jahr pro Person 200 D-Mark in ausländische Währung umtauschen. Das dafür zuständige Außenwirtschaftsgesetz gibt es heute noch! Wenn ein wirtschaftliches Ungleichgewicht entsteht, muß man solche Schutzmaßnahmen treffen können.

Ein solches Außenwirtschaftsgesetz bräuchte also auch Rußland?

Seiffert: Das wäre sinnvoll. Sie haben jetzt einen kleinen Anfang gemacht, aber sie sind unter Primakow nicht konsequent genug. Derzeit darf jeder ausreisende Russe nicht mehr als 1.500 Dollar in bar aus Rußland ausführen.

Dazu müßte der Rubel doch durch weitere Maßnahmen stabilisiert werden, um das Mißtrauen in die Währung nicht weiter zu erhöhen.

Seiffert: Richtig. Nur ist die bisherige Regierung Primakow in dieser Weise zurückhaltend oder widersprüchlich gewesen. Der frühere Chef von GOSPLAN, Masljukow, der Kommunist in der Regierung Primakow, sagte, man müsse den Dollarumlauf überhaupt einschränken. Zwei Stunden später erklärt Primakow das Gegenteil.

Es wäre für Rußland gut, gewisse Beschränkungen für eine gewisse Übergangszeit durchzuführen. Es gibt keine Notwendigkeit für die unbegrenzte Umtauschmöglichkeit des Rubel. Dies leistete der Tatsache Vorschub, daß sich viele Milliarden des russichen Vermögens jetzt im Ausland befinden. 140 Milliarden Dollar befinden sich im Ausland, noch einmal 40 Milliarden Dollar befinden sich in privaten Händen in Rußland. Der dritte Fehler ist, daß man das spekulative statt das produktive Kapital gefördert hat. Bei diesen Spekulationen handelt es sich überwiegend um Devisengeschäfte.

Wie können denn Investitionen in produktive Geschäfte attraktiv gemacht werden?

Seiffert: Das ist dann möglich, wenn der Staat in seiner Gesetzgebung, insbesondere bei den Steuern, Anreize schafft für die Gründer mittlerer Unternehmen oder Investoren in der Industrie. Diese müssen steuerlich besser gestellt werden! Da dies bisher unzureichend geschehen ist, wurde in produktives Kapital bisher kaum investiert.

Die Oligarchien, die sich inzwischen in Rußland herausgebildet haben, helfen sich untereinander, bekriegen sich, um noch schneller reich zu werden und das Eroberte im Ausland anzulegen. Fahren Sie in die besten Badeorte Frankreichs – die meisten, die dort gut leben und die Dollars locker sitzen haben, sind Russen!

Haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Rußlands nicht weniger mit den ausländischen Beratern zu tun, sondern vielmehr mit hausgemachten Problemen der politischen Führung?

Seiffert: Es hat natürlich etwas mit dem Versagen der Politik zu tun – aber hier muß man in einem Atemzug die ausländischen Berater nennen, die diese Tendenzen nicht kritisiert, sondern noch gefördert haben. Wenn Sie einen Mann nehmen wie den amerikanischen Professor Jeffrey Sachs – heute erklärt er, daß er von Rußland wahrscheinlich zu wenig verstanden hat. Diese Erkenntnis kommt ein bißchen spät! Was glauben Sie, wie lange die russischen Juristen brauchen, um sich auf ein neues Zivilgesetz umzustellen, nachdem man mit einem ganz anderen Recht groß geworden war.

Die amerikanische "Schocktherapie" ist hauptverantwortlich für die russische Krise?

Seiffert: Das ist ja auch der Grund, weshalb Gajdar die ersten Duma-Wahlen verloren hat. Weil die Leute diese "Schock-Therapie" nicht geschluckt haben. Dieser scharfe Liberalismus funktioniert in Rußland nicht. Rußland wird immer Rußland bleiben. Rußland wird deshalb einen russischen Weg wählen müssen. Die undurchdachte Übernahme von Programmen aus dem Westen – ob sie gut oder schlecht sind – ist falsch. Hinzu kommt, daß das, was die USA und der Internationale Währungsfond für Rußland gefordert haben, überhaupt nicht paßte.

Es reicht doch aber nicht, nun dem Ausland alle Schuld in die Schuhe zu schieben.

Seiffert: Mit dem Hinweis auf die Berater möchte ich nicht von der Eigenverantwortung der russischen Führung ablenken. Nur hatten diese Leute, wie Jelzin beispielsweise, auf diesen Gebieten überhaupt keine Ahnung. Die haben eben zu sehr auf diese Berater vertraut und das gemacht, was man ihnen geraten hat.

Es wird eine eigenständige russische Variante der Marktwirtschaft geben. Am eigenständigsten wird diese in der Landwirtschaft sein. Dort haben bisher nämlich kaum Reformen stattgefunden. Hier werden sich viele neue Eigentumsformen entwickeln, private, genossenschaftliche und auf russische Traditionen zurückgreifende Formen. Hauptsache ist, daß sich Rußland wieder selbst ernährt. Es müßte von den Chinesen lernen, die mit der Umwandlung der Landwirtschaft begonnen haben. Ferner muß Rußland die Einführung von Einfuhrzöllen auf landwirtschaftliche Produkte erwägen, um die eigene Landwirtschaft zu schützen.

Wie selbständig kann Jelzin überhaupt handeln?

Seiffert: Die These, Jelzin sei eine Marionette, ist völliger Unsinn. Er hat entschieden, daß Tschernomyrdin wegkommt und Kirienko hinkommt, und er hat auch entschieden, daß nun Primakov kommt.

Würde Rußland ohne Jelzin nicht besser fahren?

Seiffert: Wo sehen Sie eine Alternative? Man beurteilt solche Entwicklungen ja am sichersten aus einer historischen Perspektive. Aber ich meine schon, daß Jelzin nach Gorbatschow eine ganz wichtige Rolle für die Entwicklung Rußlands spielte. Er hat die Auflösung der Sowjetunion zustande gebracht, er hat die Einführung der Marktwirtschaft in Rußland zustande gebracht – mit all den Schwächen und Fehlern selbstverständlich – und dann hat er mit Hilfe verschiedener Juristen die neue Verfassung zustande gebracht, die am 12. Dezember 1993 in Kraft getreten ist und durch Referendum mit über 50 Prozent der Stimmen angenommen worden ist. Diese Verfassung ist eine rechtsstaatliche, die westlichen Verfassungen vergleichbar ist – wenn sie auch eine starke Stellung des Präsidenten beinhaltet. Doch dies ist auch in Frankreich und den USA der Fall.

Hat Jelzin aber nicht genauso wie Kohl den Zeitpunkt des rechtzeitigen Abtritts verpaßt?

Seiffert: Es ist kennzeichnend für Menschen in diesen Positionen, daß sie glauben, unersetzbar zu sein. Wenn Jelzin aber 1997 nicht noch einmal angetreten wäre, dann hätte Rußland Schuganov von den Kommunisten bekommen. Ein anderer als Jelzin hätte den Sieg nicht geschafft.

Wer kommt nach Jelzin?

Seiffert: Ich vermute, daß bis zum Anfang des Jahres 2000 keinerlei Veränderungen stattfinden.

Werden sich die sozialen Spannungen nicht stärker verschärfen, als Sie prognostizieren? Muß man nicht mit Bürgerkrieg rechnen?

Seiffert: Sicher, in Rußland ist alles möglich. Aber: Gegenwärtig sehe ich hierfür die Gefahr nicht als sonderlich groß an. Wenn die Regierung Primakow – was ihr schon teilweise gelungen ist – dafür sorgt, daß wieder überall Gehälter pünktlich gezahlt werden, dann entspannt sich die Lage. Wie sie das macht, ist klar: Sie hat die Notenpresse angeworfen. Solange sie das nicht übertreibt, ist die Gefahr einer Superinflation nicht in Sicht.

Man wundert sich sicherlich über die Gemütsruhe der Russen. Sie sagen sich halt "Wir haben das doch schon ein paarmal gehabt". Wenn die Regierung auf diese Weise immer wieder eine Beruhigung hinbekommt, dann wird die Entwicklung bis zu den Wahlen der Duma 1999 und des Präsidenten 2000 relativ ruhig verlaufen.

Wie realistisch ist es überhaupt, daß Rußland notwendige Wirtschaftsreformen zügig anpackt?

Seiffert: Das Außenwirtschaftsgesetz liegt im Entwurf bereits vor. Es gibt ein ganzes Bündel von geplanten Maßnahmen – nur ist der IWF damit nicht einverstanden. Primakow ist jedoch gewillt, diese notfalls auch ohne neue Kredite des IWF durchzusetzen. Das ist ein vernünftiger Standpunkt. Nicht der IWF muß sagen, was Rußland machen soll, sondern das muß Rußland selber wissen. Wenn der IWF dabei helfen will, ist das gut, ansonsten muß er es eben bleiben lassen.

Ist mit einem Wiederaufstieg der Kommunisten in Rußland zu rechnen?

Seiffert: Die Kommunistische Partei von Schuganov wird ein Faktor bleiben. Sie kann mit etwa 20 Prozent der Stimmen für die nächsten drei, fünf Jahre rechnen. Sie haben aber keine Chance zuzulegen. Das ist vorbei. Insbesondere deshalb, weil die Mehrheit der Jüngeren keinesfalls in die alte Zeit zurückwill. Von den 20 Prozent kommunistischer Wähleranteil ist der überwiegende Teil über 50. Diese halten nostalgisch an der Vergangenheit fest und verklären den Kommunismus. Ich sage voraus, daß in fünf Jahren der Stimmenanteil weiter zurückgehen wird. Der Rückgang betrifft übrigens auch den Populisten Schirinowski. Der hatte ohnehin weniger Stimmen als die Kommunisten, aber auch hier geht der Stimmenanteil bereits stark zurück.

Wer sind die eigentlichen politischen Kräfte Rußlands?

Seiffert: Das ist die große Frage, weil es neben den Kommunisten keine durchorganisierte Partei nach westeuropäischem Vorbild gibt. Man kann sogar bezweifeln, ob dies in Zukunft der Fall sein wird. Es gibt das "Unser Haus Rußland" mit Tschernomyrdin als Vorsitzendem, alles andere sind politische Gruppierungen, die beschränkte Prozentzahlen erreichen, aber keine große Durchschlagskraft entwickeln.

Spielen nationalistische, zaristische Gruppierungen eine nennenswerte Rolle?

Seiffert: Sie haben keine Chance. Das sind Minderheiten. Was es als russisches Phänomen gibt, ist die Herausbildung einer Klientel auf regionaler Ebene. So schafft sich jeder Gouverneur eine eigene politische Gruppierung, die für seine Unterstützung und seine Wiederwahl sorgt. Das ist kein neues Parteiensystem, das ist Cliquenwirtschaft auf regionaler Ebene.

Ist mit der Schwächung des russischen Nationalismus und stärkerem Regionalismus zu rechnen?

Seiffert: Der Regionalismus muß nicht identisch sein mit einer Schwächung der Zentrale. Der Regionalismus hat ja unterschiedliche Gestalt und Ursachen: In Sibirien und im Kaukasus etwa gibt es klare Bestrebungen, sich zu verselbständigen. Zumindest wollen sie gewisse Autonomierechte haben. Ob dies so weit geht, wie Breshinski prophezeit hat, daß Rußland in einen europäischen Teil, Sibirien und Fern-Ost zerfällt, ist fraglich. Dies hängt davon ab, wie klug Moskau mit diesen Bestrebungen umgeht. Truppen in die Regionen zu entsenden – das funktioniert seit der Tschetschenien-Krise nicht mehr. Diese Probleme sind nur politisch-ökonomisch zu lösen.

Sie unterrichten an der Universität Moskau junge Studenten, die überwiegend im neuen System ihr politisches Bewußtsein erlangten. Welche Kultur, Ideale und Werte bestimmen diese Generation? Transportieren Hollywood-Filme den amerikanischen Traum erfolgreich?

Seiffert: Jeder amerikanische kassenfüllende Film wird schnell synchronisiert und in Rußland gezeigt – fast so schnell wie in Deutschland. Die jungen Russen gehen in Restaurants, Clubs, aber auch russisches Theater und Oper. Sie haben keine ideologischen Bindungen mehr, es gibt welche, die wieder in die Kirche gehen, und sie wollen mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben.

Es gibt nach wie vor einen ungewöhnlichen Respekt der Jungen vor den Alten – mit Deutschland überhaupt nicht vergleichbar. In den Familien bewohnen die Babuschkas, die Großmütter meist die größten Zimmer.

Welche Rolle spielt die Literatur?

Seiffert: Es wird nach wie vor mehr gelesen als in Deutschland, obwohl das Fernsehen auf dem Vormarsch ist.

Welche Zukunft haben junge Russen vor Augen? Ist die Ausreise nach Amerika das Ideal?

Seiffert: Die Begeisterung für Amerika nimmt ab. Die meistgesprochene Fremdsprache ist dennoch nach wie vor Englisch. Bei den Jurastudenten gibt es aber beispielsweise einen starken Drang zum Deutschen und Französischen.

Wer kann überhaupt studieren?

Seiffert: Die meisten Studenten kommen aus wohlhabenden Familien, weil das Studieren Geld kostet. Bei unserer Universität zahlt ein Student im Studienjahr zwischen 5.000 und 7.000 Dollar Studiengebühr. Das muß irgendwo herkommen. Die einen haben es von den Eltern, die anderen gehen nebenher arbeiten.

Die Russen gelten als ein sehr stolzes Volk – ist das heute noch so?

Seiffert: Stolz sind sie immer. Minderwertigkeitskomplexe haben sie nicht. Manchmal würde ich mir wünschen, sie würden etwas kleinere Brötchen backen.

Warum?

Seiffert: Weil man – auf deutsch gesagt – aus der Scheiße nicht herauskommt, wenn man nicht begreift, daß man da selber reingekommen ist. Die meisten Politiker sagen, daß der Zweite Weltkrieg, die Amerikaner, was weiß ich schuld sind, aber nicht: Wir selber haben uns diesen Mist eingebrockt.

Solschenizyn hat jetzt eine scharfe Abrechnung mit dem Westen veröffentlicht. Hat seine Stimme in Rußland noch Gewicht?

Seiffert: Er hat keine Resonanz mehr.

Bei seiner Rückkehr wurde er doch triumphal gefeiert.

Seiffert: Das war doch selbst organisiert. Solschenizyn spielt keine Rolle mehr. In den zwanzig Jahren, in denen er fern von Rußland war, hat er den Anschluß verpaßt.

Das deutsch-russische Verhältnis wurde früher oft kulturell romantisiert.

Seiffert: Politisch werden die Chancen aber nicht erkannt. Gerade wegen der schlechten Erfahrungen mit Amerika rückt Deutschland wieder zusehends ins Zentrum des russischen Interesses.

Haben die Deutschen die besten Chancen für wirtschaftliches Engagement in Rußland?

Seiffert: Die Deutschen stehen nicht wie die Amerikaner in der Gefahr, wie Kolonialherren aufzutreten. Die Deutschen haben drei goße Erfahrungen gemacht, von denen die Russen profitieren können: Die Weltwirtschaftskrise 1929-32, den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und die Meisterung der Wiedervereinigung.

Zum Glück hat man aber darauf verzichtet, die Größen der Treuhand nach Rußland zu schicken, die schon der Wirtschaft der DDR den letzten Rest gegeben haben. Der liebe Gott möge Rußland vor diesen Leuten bewahren. Eine vernünftige Diskussion über Wirtschaftspolitik, Investitionen, Wirtschaftsrecht und Außenwirtschaft wäre zwischen Rußland und Deutschland in noch stärkerem Maße zu wünschen.

Gibt es dafür in Deutschland überhaupt Voraussetzungen – so sehr, wie wir nach Westen fixiert sind?

Seiffert: In Deutschland spielt auch immer noch dieses Rapallo-Gespenst eine Rolle. Vielleicht befreit sich die neue Bundesregierung ja von solchen Scheuklappen. Ich sehe aber im Moment niemand in dieser Regierung, der etwas von Rußland versteht.

Wie sieht man in Moskau den Regierungswechsel in Bonn? Wird er ähnlich bewertet wie 1969 der Übergang zur Regierung Brandt-Scheel?

Seiffert: Nein. Der Wechsel wird eher mit Befürchtungen betrachtet. Schröder kann man nicht mit Willy Brandt vergleichen. Zudem spielte das persönliche Verhältnis zwischen Jelzin und Kohl eine große Rolle. Schröder hat auch noch nicht viel zu Rußland gesagt. Zudem will die neue Regierung ebenfalls an der NATO-Osterweiterung festhalten, die ein Riesenhemmnis für die deutsch-russischen Beziehungen darstellt. Ich habe in einem Spiegel-Essay frühzeitig vor der Osterweiterung gewarnt. Wo soll die Gefahr aus dem Osten sein? Das ist sicherheitspolitisch völliger Unsinn.

Die Nato-Osterweiterung also stoppen?

Seiffert: Ich weiß nicht, ob das noch zu stoppen ist. Die neue Regierung hat in solchen Frage überhaupt keinen Mut. Man ist erpicht darauf, zu beweisen, daß man sich hier von den Vorgängern nicht unterscheidet.

Wie ist zu erklären, daß in Rußland – obwohl es im Zweiten Weltkrieg die größten Verluste hatte – die geringsten Vorbehalte gegenüber den Deutschen bestehen?

Seiffert: Sie haben Recht. Bei den Russen sind im Vergleich zu Polen und Tschechen die antideutschen Gefühle sehr viel geringer. Glasunow, ein russischer Maler und Philosoph hat mal gesagt, die deutsche und russische Seele seien eng verwandt. Historisch empfindet man diesen Hitler-Krieg als eine unverständliche und nicht erwartete Unterbrechung der guten russisch-deutschen Beziehungen. Ob sie Solschenizyn oder andere lesen, Sie finden über die Deutschen einschließlich der Rußlanddeutschen immer positive Auffassungen, manchmal sogar übertrieben respektvoller Art. Die Deutschen können organisieren, die Deutschen sind pünktlich und fleißig – ich muß ihnen dann immer sagen, daß sie die Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg vor Augen haben. Obwohl die Russen sonst nachtragend sind – in Bezug auf so ein Volk wie die Deutschen sind sie es nicht.

Zur deutschen Innenpolitik: Sie hatten als Berater Honecker in den siebziger Jahren gedrängt, sich der deutschen Einheit anzunehmen. Honecker soll erwidert haben, die SED sei dann weg vom Fenster. In Gestalt der PDS sitzt sie nun in einer Landesregierung. Hätten Sie das erwartet?

Seiffert: Ja und nein. Die PDS hat natürlich viele alte SED-Mitglieder in ihren Reihen. Insofern ist sie als Nachfolgerin der SED zu sehen. Andererseits hat die bisherige Bundesregierung Kohl ihre Politik gegenüber den neuen Bundesländern so betrieben, daß sie der PDS erheblich geholfen hat. Insofern ist der Aufstieg der PDS durch die falsche Politik nach der Wiederveinigung zu erklären. Für mich wäre es viel einleuchtender gewesen, man hätte von Anfang an eine Differenzierung gegenüber der alten DDR-Elite vorgenommen: Wer gerichtlich nachgewiesenermaßen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, muß dafür bestraft werden und darf nicht in irgendwelche staatlichen oder wissenschaftlichen Positionen kommen. Man hat es aber umgekehrt gemacht. Man hat alle von der neuen politischen und staatlichen Struktur ausgeschlossen. Das war keine befriedigende Lösung. Man hat diese Leute doch in die Arme der PDS getrieben.

Was halten Sie vom Umgang der PDS mit der Nation?

Seiffert: Es hat im Neuen Deutschland ja kürzlich eine "Nationale Debatte" gegeben. Dazu muß man aber folgendes sehen: Die Sache ist insofern unehrlich, wenn man nicht darauf eingeht, warum die PDS nicht vor der Wiedervereinigung eine Politik in Richtung der Wiedervereinigung betrieben hat.

Es gibt gewisse Dinge in der Geschichte, die zwangsläufig kommen. Die Frage ist nur wann und zu welchen Bedingungen. Und das war mit der Wiederveinigung so – dies weigerte man sich bei der SED zur Kenntnis zu nehmen. Das wäre für die Politik im Westen sehr unangenehm geworden. Die PDS müßte einräumen, daß die SED in der nationalen Frage versagt hat.

Wo hat Kohl versagt?

Seiffert: Bereits mit dem Slogan von den Blühenden Landschaften. Wenn ich ein bankrottes Unternehmen übernehme, kann ich nicht von blühenden Gewinnen sprechen.

Wie geht es mit der PDS weiter?

Seiffert: Es ist die Frage, ob die SPD klug gehandelt hat mit der Koalition in Mecklenburg-Vorpommern. Ringstorf hofft, durch die Einbindung der PDS diese zu eleminieren. Wenn es gut geht, entsteht für die Wähler die Frage, wozu man die PDS überhaupt noch braucht. Das Ergebnis könnte eine Spaltung der PDS sein.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert wurde 1926 in Breslau geboren. Nach Kriegsdienst bei der Kriegsmarine 1944 in sowjetischer Gefangenschaft, schließt er sich 1949 der westdeutschen KPD an. Seit 1956 in der DDR, studiert er an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Jura mit anschließender Promotion und Habilitation. Von 1967 bis 1978 leitet Seiffert das Institut für ausländisches Recht, Vizepräsident der Gesellschaft für Völkerrecht der DDR. Seit seiner Aussiedlung aus der DDR 1978 lehrt Seiffert an der Universität Kiel. Bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel. Seitdem lehrt und arbeitet Seiffert überwiegend in Moskau. Derzeit ist er Generalsekretär des Zentrums für deutsches Recht im Institut für Staat und Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften, Schiedsrichter am Internationalen Kommerziellen Schiedsgericht der Kammer für Industrie und Handel in Moskau.

Literatur:
"Wirtschaftsstandort Rußland"; "Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung"; "Die Deutschen und Gorbatschow"; "Abschied von der Weltrevolution"


 
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