© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Verfassungsschutz: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Geheimdienst gewinnt neue Qualität
Der neue Geßlerhut von Köln
Hans-Helmuth Knütter

Freiheitliche Demokratie – das ist heute ein Wert, auf den sich alle berufen. Aber was heißt das eigentlich? Demokratie soll die persönliche Freiheit gewährleisten, und insofern ist sie kein Selbstzweck. Sie ist den Werten Freiheit und Rechtsstaatlichkeit im Range nach geordnet. Vorrang muß immer die persönliche Freiheit, die Freiheit von Fremdbestimmung haben. Wer gefährdet diese? Vor 1848 richtete sich das Freiheitsstreben gegen die absolutistische Staatsmacht und die bevormundende Kirche. Im zwanzigsten Jahrhundert entstanden die totalitären politischen Religionen des Kommunismus und Nationalismus. Und heute, in der Demokratie, der freiheitlichsten,die wir nach Meinung ihrer Lobredner haben? Die Freiheitsgefährdung geht nicht zuletzt von Geheimdiensten aus. Angeblich zum Schutze des Staates, der Verfassung(und vor allem der jeweils Regierenden) geschaffen, neigen sie zur Bevormundung der Bürger und entwickeln sich zu Instrumenten der Gesinnungskontrolle, der Nachzensur und der Meinungslenkung.

Josef Schüßlburner hat verdienstvoll diesen Mißbrauch angeprangert (JF 6. und 13. November). Offenbar kommt vielen Bürgern das Wirken dieser Geheimdienste unheimlich vor. Das liegt nach den jüngsten Erfahrungen auch nahe. Über den KGB und vor allem die Stasi haben wir Tatsachen erfahren, die früher als Verschwörerphantasien abgetan worden wären. Jetzt greift das Mißtrauen auf die "demokratischen" Geheimdienste über. Peter Ferdinand Koch hat in seinem Buch "die feindlichen Brüder" den Kampf zwischen Stasi und Verfassungsschutz eindrucksvoll eindrucksvoll und mit schockierenden Einzelheiten geschildert. Erich Schmidt-Eenboomrückte kürzlich das Verhältnis des Bundesnachrichtendienstes zu den westdeutschen Journalisten in ein übles Licht. Dem Verfassungsschutz schien es deshalb wohl angebracht, vorsorglich ein Buch mit rechtfertigender Tendenz vorzulegen (Bundesministerium des Innern (Hrsg): Verfassungsschutz, Bestandsaufnahme und Perspektiven. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Halle, Mitteldeutscher Verlag 1998, 431 Seiten).

In einem kleinen Verlag ist eine Schrift erschienen, die es verdient, ins hellste Licht der Öffentlichkeit gestellt zu werden: Christiane Hubo, Verfassungsschutz des Staates durch geistig-politische Auseinandersetzung. Ein Beitrag zum Handeln des Staates gegen Rechts. Göttingen: Cuvillier-Verlag 1998, 290 Seiten, 98 DM. Entstanden ist es als Dissertation bei dem renommierten VerwaltungsjuristenProf. Dr. Helmut Quaritsch an der Hochschule für Verwaltngswissenschaften in Speyer. Die Autorin ist an der Universität Göttingen tätig. Der Leser findet eine fundierte Kritik des Mißbrauchs politischer Macht durch den Verfassungsschutz. Es ist bezeichnend für die freiheitlichen Zustände in diesem Lande, daß unerwünschte Literatur auch ohne Verbote und offene Zensur (die es aber entgegen offiziellern Versicherungen inoffiziell gibt) durch Totschweigen unterdrückt werden.

Klare Ungleichbehandlung von Links und Rechts

Worum geht es? In fünf großen Kapiteln legt die Autorin die in einer Demokratie zu schützenden Freiheitsrechte dar. Neben der Verbotspraxis ist die "geistig-politische Auseinandersetzung" eine der staatlichen Methoden, für die es die schöne Bezeichnung "Verfassungsschutz durch Aufklärung" gibt. So liegt die Gefahr des Mißbrauchs nahe, den die Autorin anhand des Extremismusverständnisses schildert. Sie stellt eine Ungleichbehandlung von links-und rechtsextrem zu Ungunsten des letzteren fest. Scharfe Kritik finden die Behandlung des Nationsverständnisses und der sog. "Fremdenfeindlichkeit" duch den Verfassungsschutz. Das Fazit lautet, daß der Staat durch die Praxis des Verfassungsschutzes negativ "transformiert" wird.

Die Autorin hat die Verfassungsschutzberichte verglichen und stellt gleich eingangs eine manipulative Tendenz dieser "Aufklärung" fest: Seit 1995 werden neben tatsächlichen rechten Gewalttätern auch solche in die Statistik einbezogen, bei denen lediglich "Anhaltspunkte" für Gewaltbereitschaft gegeben sind. Beim Linksextremismus werden aber mehrere Tausend Personen, die zum Mobilisierungspotential zählen, nicht mitgezählt. Der Aussagewert der in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Gesamtzahlen werde damit erheblich relativiert, lautet das sehr zurückhaltend formulierte Urteil der Autorin (S. 4f.). Wir leben heute in einer "anderen Republik", die sich erheblich von der alten Bonner BRD unterscheidet. Aber bereits unter der CDU/CSU/FDP-Regierung hat jene Linksentwicklung begonnen, die heute den SPD-Innenminister Schily veranlaßt, die Überwachung der linksextremen PDS zu "überdenken". Die linksextreme SPDS-Regierung in Mecklenburg-Vorpommern ändert vorauseilend den "Verfassungsschutz" in eine Einrichtung zur Sicherung der neuen antifaschistisch-volksdemokratischen Grundordnung.

Christiane Hubo begibt sich in die Höhen und Tiefen der politischen Theorie, wenn sie sich dem Werterelativismus der Weimarer Demokratie zuwendet. Aus deren Hilflosigkeit dem Extremismus gegenüber wird ja die Wertgebundenheit des Grundgesetzes abgeleitet. Das war verständlich in den Jahren des Kalten Krieges, als es vor allem um die Abwehr des Kommunismus ging. In der Tat waren die SED und die an ihrem Gängelband laufenden KPD und DKP Agenturen einer fremden, feindlichen Macht. Ihre kämpferische Abwehr war notwendig und berechtigt. Aber gut gemeint heißt noch lange nicht gut gemacht. In Anlehnung an den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein stellt Christiane Hubo fest, daß die wertgebundene Demokratie vom Bürger nicht nur die Beachtung der Rechtsätze verlangt, sondern darüber hinaus Identifizierung und Realisierung, ihn also viel intensiver in die Pflicht nimmt. Das führt zu Eingriffen in Freiheitsrechte. Der Verfassungsschutz wird vorgelagert auf den vorstaatlichen Bereich der politischen Willensbildung (S. 23 f). Sagen wir´s mit dem Wort, das Christiane Hubo zurückhaltend vermeidet: Es findet Gesinnungskontrolle statt. Immerhin stellt sie fest: Die Sicherung der Verfassung darf nicht dazu führen, daß die ständige politische Auseinandersetzung, die für die freiheitliche demokratische Staatsordnung konstiuierend ist, durch die Ausschaltung des freien Wettbewerbs der politischen Ideen aufgehoben wird" (S. 28).

Warum bekämpfte die Regierung Kohl den Rechts- und den Linksextremismus entgegen offizieller Versicherung höchst ungleichgewichtig? Man lese die zahlreichen Beispiele für den politischen Opportunismus der Bundesregierung (S. 34–39). Unbedingt lesenswert ist auch die Behandlung des Extremismusbegriffs (S. 76–98), der anschließend auf die Elemente rechtsextrmer Ideologien angewendet wird. Das Ergebnis ist bedrückend: Ein Gewirr von widersprüchlichen Definitionsversuchen. Eine verfassungsgerichtliche Begriffsbestimmung gibt es nicht. Gäbe es sie, wäre auch das kein Beweis für Richtigkeit und Weisheit, sondern für die Verbindlichkeit, an die sich Rechtssprechung und Verwaltung, also auch die Verfassungsschutzbehörden, zu halten haben. Daß es keine Verbindlichkeit gibt, liegt politischer Mißbrauch nahe (S. 98 ff., S.118).

Christiane Hubo bietet eine horrende Blütenlese von kritischen Aussagen zur Politik der Bundesregierung, die in den Verfassungsschutzberichten zitiert werden (S. 118–123). Es handelt sich in keinem Fall um Aufrufe zum Umsturz, sondern um legale und legitime, regierungskritische Äußerungen. In den Verfassungsschutzberichten gelten sie allerdings als "tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen" (wie die unglaubliche Diffamierungsformel lautet). Wer gefährdet hier eigentlich die Verfassung?

Ein Grundproblem der geistig-moralischen Befindlichkeit hierzulande deutet Christiane Hubo an (S. 120):Im Verfassungsschutzbericht des Bundes für 1996 wird über zwei Meinungsfreiheitskampagnen berichtet. Je ein "Appell der 100" und ein "Appell der 500" haben in Zeitungsanzeigen auf die Gefährdung der Meinungsfreiheit in der BRD hingewiesen. Der Verfassungsschutzbericht referiert das mit dem Hinweis, daß neben "rechtsextremistischen" Publizisten und Akademikern "mehrheitlich" Personen unterzeichnet hätten, die "bislang" nicht durch "rechtsextreme" Äußerungen in Erscheinung getreten seien. Wer wird hier wegen einer legalen, legitimen, ja notwendigen "Meinungsäußerung" in den Verdacht des Rechtsextremismus gerückt? Die Tücke liegt darin, daß sich der Verfassungsschutz herausreden wird (wie es in einer prozessuralen Auseinandersetzung mit der jungen freiheit auch geschehen ist), man habe ja nur auf "tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen" hingewiesen und im übrigen niemand bespitzelt und auch keine Namen genannt. Aber dennoch maßt sich eine Behörde an, die konkrete Verfassungsgefährdungen beobachten soll (also Hoch- und Landesverrat, Gewaltpropaganda und -taten), Meinungsäußerungen zu zensieren, die keinen der vorstehenden Tatbeständen erfüllen.

Absurde Fahndung nach "tatsächlichen Anhaltspunkten"

Christiane Hubos Fazit verdient uneingeschränkte Zustimmung: "Die Entgrenzung des Extremismusbegriffs, besonders in der Formel des Extremismus der Mitte und damit die Einordnung aller derjenigen, die linken Bestrebungen ablehnend gegenüberstehen, als rechtsextrem, könnte letztlich dazu führen, daß solcherart begriffliche Ausweitungen benutzt werden, den demokratischen Verfassungsstaat zu delegitimieren. Der Extremismusbegriff würde dann zum offensiven Kampfmittel von Bestrebungen werden, die selbst dem Verfassungsstaat reserviert gegenüberstehen ...". (S. 128).

Im Schlußwort schließlich heißt es: "Mit Ausnahme einiger weniger Publikationen zur politischen Bildung erfüllt die ’geistig-politische Auseinandersetzung’, nicht, was der Terminus verspricht und erwarten läßt.Vielmehr dominieren zum einen Positionsdarstellungen und Begriffsauslegungen im Lichte einer Zielperspektive, die sich nicht als Gebot der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung ergibt, sondern eine Transformation von Staat und Gesellschaft erstrebt. Zum anderen treten an die Stelle einer inhaltlichen, argumentativen Auseinandersetzung vielfältige Formen des Setzens von Zeichen edukativer Öffentlichkeitsaufklärung und selektiver Informierung, die die Erzeugung eines Meinungsdrucks und Verhaltensanpassungen in einem gesellschaftlichen Klima öffentlicher Schweigegebote und Ausgrenzungsbedrohungen intendieren. Geistig-politische Auseinandersetzung nimmt damit Formen des politischen Krieges an, in dem über die Bewußtseinsformung und informal, sanktionsbewährte Verhaltenssteuerung mit staatlichen Mitteln ein neues Herrschaftssystem vorbereitet wird... Zur Erklärung des politischen Gegners, zum Feind des Gemeinwesens genügte es zu Zeiten römischer Kaiser, das Bildnis des Herrschers nicht zu grüßen. Dies erinnert an den Landvogt Geßler, der den Hut zu Altendorf aufsteckte, ’daß sie (das Volk) den Nacken mir lerne beugen, den sie aufrecht tragen’, ’ich will ihn brechen diesen starren Sinn, den kecken Geist der Freiheit will ich beugen, ein neu Gesetz will ich in diesem Lande’. Das Ende bei Schiller ist der Rütli-Schwur, der allgemeine schweizerische Volksaufstand." (S. 253 ff.) – Das ist deutlich! Gibt es noch Fragen? Ja, es gibt! "Macht unsere Bücher billliger!" hat Kurt Tucholsky bereits vor 70 Jahren gefordert. Und wenn man diesem vorzüglichen Buch die weiteste Verbreitung wünscht, dann fragt man sich und den Verlag , wie das bei einem Preis von 98 DM möglich sein soll. Gerade für Verfassungsschützer und in diesem Bereich tätige Politiker sollte es zur Pflichtlektüre werden. Vielleicht ist der eine oder andere noch nicht so verhärtet, daß ihm beim Blick in diesen Spiegel doch das kalte Grausen kommt und der Schock Nachdenklichkeit und innere Umkehr bewirkt. Die literarisch Gebildeten erinnern sich vielleicht an Goethe: "Hab nur den Mut, die Meinung frei zu sagen und ungestört! Es wird die Zweifel in die Seele tragen, dem, der es hört. Und vor der Lust des Zweifels flieht der Wahn. Du glaubst nicht, was ein Wort oft wirken kann."

Gewiß, die Berliner Republik ist eine andere als die bisherige. Aber wir wollen doch die Gefahr einer Fehlentwicklung bannen, die Christiane Hubo in ihrem Schlußwort bezeichnet: An die Stelle des bisherigen träte dann ein neuer Staat mit einem neuen Volk, als Träger der Staatsgewalt. Dies alles ohne die Zustimmung der verfassungsgebenden Gewalt des (bestehenden) Volkes dürfte letztlich auf eine Zerstörung der jetzigen verfassungsmäßigen Ordnung hin sich entwickeln, auf eine Transformation des Staates, begleitet von "geistig-politischer Auseinandersetzung" als Mittel des Verfassungsschutzes.


 
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