© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/98  20. November 1998

 
 
Kino: Deutsche Filme verschenken die Chance des historischen Films
Die Stoffe liegen brach
Ilse Meuter

"Wer ist schuld?" lautet die neudeutsche Generalfrage. Ihre Antwort verdankt sich einem Pawlowschen Reflex, sie lautet stereotyp: Die Nazis, will meinen – die Deutschen. Nach Lage der Dinge kann besagte Frage nur als eine rhetorische verstanden werden. Teilungsübergreifend, die weniger ersehnte als vielbeschwätzte "innere Einheit" realisierend dröhnt als Antwort: "Wir" bzw. "unsere Gesellschaft". Immer und überall war es – die Gesellschaft.

Da ist ein Frank Beyer, honoriger DDR-Filmemacher ("Oberspielleiter"), und der dreht, kaum ist die Mauer weg und McDonald’s da, einen Streifen namens "Der Verdacht", gleichsam als Schuld-joint-venture mit dem WDR/Köln. Fördergelder fließen, und schon beginnen die Konturen zu verschwimmen. Statt nüchterner sozioökonomischer Rekonstruktion moralisierende Selbstzweifel, paratheologisches Schuldgewurschtel und die obligate Bußgesinnungsforderung an alle und keinen. Dieses Syndrom hat die Alt-BRD perfektioniert – Wollust aus der Zerknirschung saugend, dabei alle Wasser trübend, die eine ernsthafte historische Klarheit über Tatsächliches erlauben. Die jüngst von Martin Walser attackierte Form der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung hat offenbar auch Kulturschaffende der DDR erfaßt, die es ablehnten, sich via BRD-Vermarktung ("Wir Dissidenten") fette Devisenkonten anzufressen.

Das altbundesrepublikanische Fernsehkintopp scheut seit jeher analytische Präzision wie der Teufel das Weihwasser: Dafür rufen jene, die altersbedingt nicht dabei gewesen sind, ihre Ahnungslosigkeit umso lauter heraus. Geldtöpfe öffnen sich, die des Bundes, der Länder und auch unionseuropäische. Ein würdeloses Spiel. Öffentliche Förderung, Auftragsproduktion und subjektivistischster Umgang mit dem Vergangenen kennzeichnen das volkspädagogische Filmschaffen der Alt-BRD; nun wird, in der Spur reichlichen Geldes und leichten Erfolges, diese Praxis unbelehrt auf Streifen über die DDR ausgedehnt.

Wer Trauerarbeit leistet, erwartet Trauerlohn, in besagtem Fall das endgültige Gelingen der Bewältigung, die Heilung, das Verschwinden des Traumas. Doch sehen wir, wie sich das gegenteil ereignet: Immer neue Traueraufgaben stellen sich, des Aufarbeitens scheint kein Ende. Hieraus saugt der vereinigungsdeutsche Film erheblichen Nektar, er scheint neben den sattsam bekannten neudeutschen Beziehungskomödien nur noch das Schuldthema zu bearbeiten und zwar in der NS- wie der DDR-Version.

Dabei wurde freilich das Genre nahezu zerstört: war Bernard Wickis "Die Brücke" (neben Konrad Wolfs "Ich war 19" noch immer der qualitätsvollste Bewältigungsstreifen) noch eine exakte Momentaufnahme von hoher historischer Detailtreue, so versandete dieser vom Bewußtsein des Tragischen geadelte Ansatz relativ schnell. Seitdem wimmelt es von filmischen Selbstauskünften, der Regisseur wäre "damals" auf keinen Fall "der NS-Versuchung erlegen". Traf 1978 Theodor Kotullas "Aus einem deutschen Leben" (mit Götz "Schimanski" George in der Rolle des Rudolf Höss) zumindest atmosphärisch die Zeit, so krankten Syberbergs Hitlerfilm und Helma Sanders "Deutschland, bleiche Mutter" an einem hyperästhetisierenden Geschmäcklertum, das einer Suche nach der braunen Blume glich. Den traurigen Endpunkt solch selbstgefälliger Ausbeutung des Vergangenen bildeten Fassbinders Nazi-Melodrame, diverse NS-Musicals von Zadek & Co sowie das Nazi-Grusical "Das Spinnennetz".

Diese Brille verdirbt den Blick, historisch wie künstlerisch. Das zeitgeistig Erlaubte, Gängige, das historisch Allgemeine des juste milieu muß entwickelt werden, sonst ist die Fördersumme futsch. Während das westdeutsche Kino an dementsprechender Trivialität dahinsiechte, gelangen einigen nach 1989 in den Ausnahmezustand gestürzten DDR-Filmern ein paar erhellende Stücke über die deutsche Malaise. Doch blieb es leider bei diesem Wetterleuchten, denn seitdem das westdeutsche "Förder"-system auch in der ehemaligen DDR greift, gibt es auch hier nur noch Schuld und nochmals Schuld.

Dem Bewußtsein war nur ein kurzer Moment erlaubt, die knappe Zeitspanne, in der "Die Architekten", "Der Tangospieler" und "Verriegelte Zeit" entstanden. Seither buhlen auch die Filmer der Ex-DDR mit billigem Moralismus um Fördermillionen; falsches Rekonstruieren, Klitterung wie in Roland Oehmes "Farssmann" oder Egon Günthers "Stein", Spurenverwischung in Andreas Dresens "Provinztheater" oder "Alles Lüge" von Heiko Schier. Zugleich geht im Westen das obligate Phantasieren über das Vergangene lustig weiter: Vilsmeiers Stalingrad-Zerrbild, Geissendörfers "Erlkönig" und Brauners "Hitlerjunge Salomon" trugen nach Kräften dazu bei, im Trott des Schuld-Paradigmas "das nachkriegsdeutsche Leittabu" (Leggewie) aufzulösen in Verlogenheit und Lächerlichkeit. In wenigen Jahren wird uns die real existiert habende DDR als "zweite Diktatur auf deutschem Boden" ins Schimärische entrückt (worden) sein; wie zuvor das Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 wird sie hinter einer Nebelwand negativer Mystifizierung unauffindbar sein. Schon heute ist die Geschichte und das Ende der DDR eines der vielen Themen und Ereignisse, zu denen der deutsche Film ernsthaft nichts zu sagen hat oder schweigen soll.

Hollywood produziert indes massenhaft Filme aus einem geschichtsarmen Land; fehlen authentische Bravourstücke, erfindet man sie kurzerhand ("Die Kanonen von Navarone"). Die jüngsten hundert Jahre deutsch-europäischer Geschichte hingegen böten überreichlich jenen historischen Stoff, aus dem sich gute Drehbücher wie von selbst ergeben.


 
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