© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/98  27. November 1998

 
 
Juri Luschkow
Ein zäher Ehrgeizling
Kai Guleikoff

Der Parteisekretär von Moskau, Boris Jelzin, holte 1987 den kleinwüchsigen Apparatschik Luschkow in sein Gefolge und übertrug ihm die Aufsicht über die Lebensmittelmärkte der Zehn-Millionen-Metropole. Seit jeher ist die Versorgung der Moskauer Bevölkerung von strategischer Bedeutung für das politische Überleben der Herrschenden gewesen. Die Bedingungen der "Sonderversorgung" gelten auch heute noch. Der Tischlersohn Juri Michailowitsch Luschkow nutzte die sozialen Vorteile des Arbeiterstandes und wurde Diplomchemiker, war 20 Jahre lang ein zuverlässiges Mitglied der Kommunistischen Partei und erwarb zahlreiche Auszeichnungen, vom Massensport-Abzeichen bis zum weniger häufig verliehenen Lenin-Orden.

Den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums sah der zähe Ehrgeizling als Chance für einen Karrieresprung. Gut vertraut mit der Leninschen Revolutionstheorie wußte Luschkow, daß gerade in Umbruchzeiten Männer der Tat gefragt sind. Als Panzer im August 1991 das Weiße Haus in Moskau beschossen, hielt er in Treue fest zu Jelzin. Dieser revanchierte sich umgehend und ernannte den "lieben Juri" zum Stadtoberhaupt, als der Vorgänger Popow im Juni 1992 sein Amt niederlegte. Die Abgeordneten des Moskauer Stadtrates wurden erst gar nicht gefragt. Andererseits wußte Jelzin, daß zwei große Feierlichkeiten der Hauptstadt bevorstanden: der 50. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg (1995) und der 850. Jahrestag der Gründung Moskaus (1997). Durch großartige Inszenierungen mußte die Misere der gescheiterten Reformen in Rußland wenigstens zeitweise überdeckt werden. Luschkow erhielt dafür die Regie.

Der alte Grundsatz: "Kader entscheiden alles" wurde so verwirklicht, daß alle Widersacher und Zweifler des neuen OB in den Schaltstellen der Millionenstadt ihre Plätze räumen mußten. Das Stadtoberhaupt wurde auch für den Bürger auf der Straße unüberhörbar, wenn sein Autokonvoi mit Sondersignal unerwartet zur Inspektion der gigantischen Baustellen erscheint. Mit der Wiedererrichtung der Christ-Erlöser-Kathedrale am Roten Platz schaffte er optisch ein Nebeneinander zwischen den christlichen Kreuzen auf deren vergoldeten Zwiebelkuppeln und den Rubinen der Sowjetsterne auf den Türmen des Kreml. Offenbar gehört dieser ideologische Spagat auch zu seinem eigenen Selbstverständnis. Auf der 28 Tonnen schweren Hauptglocke des Geläutes ist sein Porträt neben denen der Zaren Alexander und Nikolai angebracht worden und auch in ähnlicher Wortwahl umschriftet: Juri, der Sohn Michails. Einen Beinamen hat er auch schon: Juri "Kurzbein", eine Anspielung auf den Fürsten Juri "Langhand", der 1147 Moskau erstmals beurkundete. Nach dessen Vorbild will der nun 60jährige Luschkow zu Beginn des neuen Jahrhunderts seinen Ziehvater im Kreml beerben.


 
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