© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/98  27. November 1998

 
 
SPD: Streit um 620-Mark-Jobs und Steuerreform / Verschwörungstheorien kursieren
Bereit, aber nicht vorbereitet
Hans-Georg Münster

Selten ist die Freude unter Wahlsiegern so schnell verflogen wie bei Sozialdemokraten und Grünen in Bonn. Man habe sich einfach zu viel auf einmal vorgenommen, versuchen von Kanzler Gerhard Schröder bis zum SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck prominente Genossen die rot-grüne Pannenserie zu erklären. Gunda Röstel, Sprecherin des kleinen Koalitionspartners, ruft nach einem neuen Gremium zur Krisenbewältigung, während sich Sozialdemokraten streiten wie die Kesselflicker.

Die Gründe für den roten Hauskrach um Steuerreform, Ökosteuer und die bislang noch sozialabgabenfreien 620-Mark-Jobs sind vielschichtig. Zu einfach wäre es, die Auseinandersetzung mit der alten Rivalität zwischen Schröder und seinem Schattenkanzler, Finanzminister und Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine zu erklären. Natürlich mögen sich beide nicht besonders, aber noch halten die Schweißnähte des Wahlsieges. Außerdem ist Bestandteil einer Abmachung zwischen Lafontaine, Schröder, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und Ex-Ministerpräsident Johannes Rau, daß Lafontaine als Chef der EU-Kommission nach Brüssel geht, falls ein deutscher Kandidat durchsetzbar ist.

In Bonn kursierende Theorien, Clement habe mit seinen Sticheleien gegen die Steuerreform Lafontaine eins auswischen wollen und dabei im Auftrag Schröders gehandelt, sind weit gegriffen. Es ist zwar nicht von der Hand zu weisen, daß dem Kanzler ein geschwächter SPD-Chef lieber ist als ein machtvoller Lafontaine, der dem Kanzler einen Minister nach dem anderen weghaut. Stollmann läßt grüßen. Wahrscheinlicher ist aber die Annahme, daß Schröder die Hände nicht im Spiel hatte, zumal Clement seine Fundamentalkritik bereits auf dem SPD-Parteitag vor der Kanzlerwahl öffentlich äußerte. Das nahm aber damals im Siegesrausch niemand so richtig zur Kenntnis.

Daß Clement zusammen mit der schleswig-holsteinischen Regierungschefin Heide Simonis Front gegen die Steuerreform macht, hat eigentlich einfache Gründe: Beide Regierungschefs haben vor den Bundestagswahlen im jeweils eigenen Land Wahlen zu bestehen. Um das Publikum bei Laune zu halten, bedarf es einiger Wahlgeschenke. Dazu reicht Lafontaines Steuerreform mit einem Gesamtentlastungsvolumen von 15 Milliarden Mark nicht aus.

Außerdem hat der Finanzminister die meisten Belastungen sehr frühzeitig terminiert, noch vor den Landtagswahlen. Die größte Entlastung der Steuerzahler ist jedoch für 2002 vorgesehen, dem Jahr der nächsten Bundestagswahl. Das wollen die sozialdemokratischen Länderfürsten nicht mitmachen, weil ihre Wahltermine dann bereits verstrichen sind. So schreibt Clement: "Sorge bereitet mir vor allem, daß mit der zusätzlichen Belastung der Wirtschaft, die ich auf mindestens 30 Milliarden Mark veranschlage, vor allem der Mittelstand der Verlierer der Steuerreform sein wird." Hinzuzufügen wäre, daß bei unverändertem Konzept Clement der Verlierer der NRW-Landtagswahlen sein wird.

Es sind auch noch alte Gewohnheiten im Spiel. In langen Jahren christdemokratischer Herrschaft war es üblich geworden, sich die Zustimmung des Bundesrates zu erkaufen. Ex-Finanzminister Theo Waigel kann Lieder davon singen, wie viele Milliarden und Steueranteile ihn das jeweilige Ja der Länderkammer gekostet hat. Im Bundesrat, so fluchen Abgeordnete des Bundestages schon seit langem, geht alles durch, wenn nur ein ausreichender Preis (Steuermehreinnahmen für die Länder) gezahlt wird.

Diese Mentalität föderalistischer Totengräberei läßt sich nicht von heute auf morgen beenden. Zumal es wieder um Riesensummen geht: Die Erhöhung des Kindergeldes belastet die anteilig beteiligten Länder mit mindestens 1,8 Milliarden, die Umstellung der 620-Mark-Jobs von Steuern auf Sozialabgaben je nach Berechnung zwischen einer und drei Milliarden Mark. Außerdem gab und gibt es in Deutschland durch die Jahrhunderte die Tendenz, daß die Fürsten der Kleinstaaten versuchen, die Zentralgewalt zu schwächen. Das wirkt nach und ist nicht etwa nur bayerisches Voralpengrollen oder Wüten des "Ruhr-Stoibers" (Süddeutsche Zeitung) Clement.

Spätestens bei den 620-Mark-Jobs sitzen nämlich beide in der Patsche – Schröder und Lafontaine. Die Umstellung von Steuern auf Sozialabgaben bringt den Arbeitnehmern nichts; die Unternehmen werden allerdings auch nicht zusätzlich belastet. Dafür erhalten die Beschäftigten, überwiegend Frauen in Reinigungsfirmen oder im Einzelhandel, keine soziale Absicherung. Der SPD-Chef ist zunächst blamiert bis auf die Knochen. Vollmundig hatte er auf dem Sonderparteitag in Bonn erklärt: "Wenn wir eine solche Fehlentwicklung des Arbeitsmarktes weiter zuließen, wäre ein zentraler Programmpunkt unserer Partei beschädigt, nämlich für die Gleichberechtigung der Frauen einzutreten." Genau diese Fehlentwicklung tritt jetzt ein. "Die Arbeitgeber zahlen, und die Frauen sehen keinen Pfennig", spottete der CDU-Abgeordnete Hartmut Schauerte.

Schröder wird es nicht viel besser gehen als dem gefalteten SPD-Chef. Die Absicht, Sozialbeiträge einzuziehen, ohne den dafür arbeitenden Beschäftigten Ansprüche auf Leistungen zu gewähren, verstößt vermutlich gegen die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes. Das Verfahren, so gut es klingt, bedeutet im Ergebnis eine Enteignung der kleinen Leute, also jener Klientel, der sich Schröder und die SPD ganz besonders verpflichtet fühlen.

Schon brachten die Auseinandersetzungen um Steuern und Sozialbeiträge den ganzen rot-grünen Zeitplan ins Wanken. Die noch in der Regierungserklärung fest versprochene Senkung der Sozialbeiträge muß von Januar auf April 1999 verschoben werden. Auch die Ökosteuer kommt mit einem Vierteljahr Verspätung. Den grundsätzlichen Fehler können Rote und Grüne jedoch auch in der gewonnenen Frist nicht beheben. Sie setzen Energie und Arbeit in einen Gegensatz und ignorieren dabei, daß ohne Energie keine Arbeit möglich ist. Die Zauberformel ,"Energie teurer – Arbeit billiger" kann nicht aufgehen.

Außerdem gibt es schwere Akzeptanzprobleme. Die energieintensive Industrie wird nicht belastet, sondern erhält Rabatte. Damit werden all die Betriebe bestraft, die ihre Energiekosten gesenkt haben. Umgekehrt: Wer jetzt den Energiekostenanteil raufdreht, kommt in die günstigere Steuerklasse. Das erinnere ihn an das Vorhaben, Kettenraucher von der Tabaksteuer zu befreien, spottete der FDP-Finanzpolitiker Carl-Ludwig Thiele. Und auch die Ökosteuer trifft vor allem diejenigen, denen sich die SPD besonders verpflichtet fühlt: Rentner, die keine Sozialbeiträge bezahlen und daher auch nicht von der Entlastung profitieren.

Schröder, so stellte der Berliner Historiker Arnulf Baring fest, scheine schon zufrieden zu sein, wenn er die Macht genießen könne. Um den Kanzler herum entwickle sich die "neckische Republik". Und Schröder war zwar zur Regierungsübernahme bereit, vorbereitet war er jedoch nicht. Hinter den Bonner Chaostagen eine große Strategie zu vermuten, hieße, der politischen Klasse eine Ehre zu erweisen, die ihr nicht gebührt.


 
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