© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/98  27. November 1998

 
 
Pankraz,
Hegel und der Held im Loch der Erinnerung

Mit einem erleichterten "Uff!" verabschiedet sich Pankraz von dem in diesem Jahr besonders trübselig gewesenen November. Wieder mal geschafft! Der November ist bekanntlich der Hauptmonat unserer sogenannten "Erinnerungskultur". Die staatlichen Instanzen und die Medien wälzen sich da förmlich in der Erinnerung an diverse Schandtaten, von allen Seiten kriegt man Asche aufs Haupt gestreut, so daß man gar nicht zum Nachdenken kommt. Gräßlicher Monat November!

Immerhin machten sich diesmal Stimmen vernehmbar, daß es so wie bisher auf keinen Fall mehr weitergehen könne. Wenn sich an dem offiziellen Erinnerungsbetrieb nichts ändere, so argumentierte man, werde es bald dahin kommen, daß die Leute aus Ekel und Überdruß einfach abschalteten und sich mit Absicht verhärteten, daß aus der "Erinnerungskultur" im Handumdrehen eine "Vergessenskultur" werde.

Was tun? Pankraz erlaubt sich, in diesem Zusammenhang an Hegel zu erinnern, der (in der "Phänomenologie des Geistes") gesagt hat, dauerhafte Erinnerung sei nur möglich, indem man sie "aufhebe", und zwar im dreifachen Sinne des Wortes. "Aufheben" bedeutet ja, erstens, daß man eine Sache vom Boden, auf dem sie liegt, wegnimmt und in eine höhere Position bringt, zweitens, daß man sie in ein Kästchen oder eine Vitrine legt und sie so vor dem Verschwinden bewahrt, drittens, daß man sie historisch macht, sie mit Gelassenheit betrachtet und einer gediegenen Forschung sine ira et studio überantwortet. Nur als solche Aufhebung, sagt Hegel, kann Erinnerung alt werden und Menschen versöhnen.

Läßt man sie hingegen als Verkehrshindernis auf dem Boden liegen, so kann es gar nicht ausbleiben, daß sie beschmutzt und in den Zank der Leidenschaften hineingezogen wird, ganz einerlei, ob es sich um eine positive oder um eine negative Erinnerung handelt. Was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall, was dem einen seine Heldentat, ist dem anderen seine Schande.

Erinnerungsexperten, die nicht aufheben, sondern liegen lassen wollen, entarten mit Notwendigkeit zu Funktionalisierern. Entweder werden sie zu Geschäftsleuten, die für sich einen bestimmten finanziellen Nutzen aus der Erinnerung ziehen, oder zu "Priestern" ( D. Schwanitz), die einen Altar errichten, auf dem man Opfer zelebrieren und vor dem man sich in den Staub werfen soll. Die Erinnerung wird dann zum Mythos, zur "Arche", also zur Anfangserzählung, aus der sich das ganze aktuelle Leben herleitet und aus dem es seine Riten bezieht. Ist sie eine schändliche, ein Schandritual, so stiftet sie negative Religion, Satanskult, der, je mehr Zeit vergeht, eine düstere Faszination entfaltet.

Die drei Momente der Aufhebung, lehrte Hegel, sind nicht voneinander zu trennen, man kann sie nicht einzeln haben. Nur eine Erinnerung, die historisch geworden und zur gelassenen Erforschung freigegeben ist, läßt sich unbehelligt in ein Tabernakel oder Reliquiar einschreinen. Andernfalls bedarf es zu ihrem Schutze Maßnahmen, die ihre Integrität dementieren und ihre Authentizität verdächtig machen: Strafparagraphen, Zuchthausdrohungen.

Nicht zuletzt und gerade diejenigen, denen die betreffende Erinnerung teuer ist, kommen dadurch in Schwierigkeiten, geraten in die Verlegenheit des Verstummen-Müssens. Denn welcher Gentleman möchte schon über eine Sache reden, wenn eventuelle Gegenredner mit Zuchthaus und allen möglichen anderen Sanktionen bedroht sind? Argumente, die ausgerechnet vom Staatsanwalt privilegiert werden müssen, sind keine. Und Erinnerungen, die gewissermaßen mit dem Rohrstock eingebleut werden, verblassen am schnellsten, wie jeder Pennäler weiß.

Was aber die Verbildlichung von Erinnerung in Denkmälern und Ehrenhainen angeht, so wehrt sich überall und immer schon ein spontanes ästhetisches Gefühl gegen die Errichtung von Schandmauern oder Schandlöchern. Auch die Heldenpose stößt übrigens auf inneren Vorbehalt. Man gehe auf einen beliebigen Friedhof! Die dort manchmal aufgestellten Heroenbildnisse wirken durch die Bank befremdlich und rechtfertigen sich allenfalls durch künstlerische Qualität, die vom Betrachter gleichsam pur, losgelöst von der betreffenden Erinnerung, goutiert wird.

Außerhalb der Friedhöfe mögen Helden-Denkmale etwas leichter durchgehen, doch auch da werden sie von den Bürgern nur zögernd und unter Vorbehalt "angenommen". Je martialischer ein Held dahergeritten kommt, um so eher ist der Volksmund geneigt, Witze über ihn zu machen. Ohnehin ist es vor allem sein Pferd, das interessiert und in der touristischen Erinnerung bleibt: wie es aus den Nüstern schnaubt, wie es den Vorderhuf hebt und wie es seine Tausend-Taler-Kruppe den Passanten entgegenstreckt.

Ausdrückliche Schandmäler, die ledig1ich Entsetzen und Scham erzeugen sollen, bildlose Löcher im Häusermeer, haben überhaupt keine Chance, je angenommen zu werden. Sie stehen frontal gegen jegliche Stadtkultur, und das Höflichste, das ihnen passieren kann, ist allgemeines Wegsehen, eiliges, gleichgültiges Vorüberschreiten. Nicht einmal Militärparaden und Kranzniederlegungen lassen sich vor ihnen ohne Peinlichkeit abhalten.

Wahre, wirklich aufgebobene Erinnerungs-Bildnisse ertragen weder Heroenpose noch gar Schandloch. Der ihnen ästhetisch angemessene Gestus ist der der Melancholie: gesenkte Fackel, nachdenklicher Blick – Eintritt in geschichtliche Dimensionen eben, die keine aktuellen Leidenschaften mehr wecken und somit auch nicht mehr funktionalisierbar sind. Die dafür aber etwas haben, was unserer gegenwärtigen "Erinnerungskultur" so sehr fehlt und speziell den Monat November so schwer erträglich macht: Augenmaß, Menschenkenntnis, Hoffnung der Zukunft. Ohne diese gibt’s weder Erinnerung noch Kultur.


 
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