© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Vergangenheitsbewältigung: Martin Walser antwortet seinen Kritikern in der Mercator-Universität Duisburg
Erfahrungen mit dem eigenen Gewissen
Volker Kempf / Richard Stoltz

Mit einem "Zwischenruf" hat der Schriftsteller Martin Walser in der vergangenen Woche erstmals öffentlich seinen Kritikern geantwortet. Seine Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 11. Oktober sei von vielen als "befreiend" empfunden worden, sagte Walser auf den 48. "Tagen der Literatur" an der Gerhard Mercator Universität Gesamthochschule Duisburg.

Walser erklärte, ihn hätten nach der Rede in der Frankfurter Paulskirche tausend Briefe erreicht, die "Ausdruck einer einzigen Bewußtseinsregung" seien. "Aus jedem Brief spricht eine andere Biographie, jede Art Bildung und Ausbildung und Berufserfahrung ist vertreten, und doch haben alle gemeinsam, daß sie einer Rede zustimmen, in der öffentlich gesagt wurde, was jeder bisher nur gedacht oder gefühlt hat", sagte der Schriftsteller.

In seiner Dankesrede bei der Preisverleihung des deutschen Buchhandels hatte Walser sich kritisch mit einer Instrumentalisierung und Ritualisierung des Gedenkens an den Holocaust auseinandergesetzt. "Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum. Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt." Walser plädierte dafür, die Erinnerung an die Verbrechen dem Gewissen jedes einzelnen zu überantworten. Nach dieser Rede hatte ihn der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, als "geistigen Brandstifter" verunglimpft und in die Nähe von "Rechtsextremisten" gerückt.

Bei seinem Auftritt im mit rund 600 Zuhörern überfüllten Audimax der Universität Duisburg betonte Walser jetzt, in jedem von uns entscheide sich, wie er "an der Erinnerung an Auschwitz teilnehmen kann. Das Gewissen ist frei oder es ist keins." Gewissen sei nicht delegierbar. Je mehr Leitung und Vorschrift spürbar werde, um so negativer könne die Reaktion ausfallen. "Wenn wir nicht Lippengebet produzieren wollen, müssen wir die Erinnerung dem Gewissen anvertrauen", sagte Walser. "Und was immer dabei in jedem einzelnen geschieht und herauskommt, es wird – auch moralisch – besser sein als alles Abverlangte, Auferlegte, dann zum Lippengebet verkommende."

Daß zu seiner Friedenpreis-Rede Mut gehört hätte, wollte Walser nicht gelten lassen. Er sei seit Wochen unterwegs, um aus einem Roman zu lesen, dessen wichtigste Kapitel mit "Vergangenheit als Gegenwart" überschrieben sind. Seit ihn der Unmut von Ignatz Bubis getroffen habe, müsse er erleben, "daß Veranstalter öffentlich und per Brief aufgefordert werden, mich nicht aus meinem Buch vorlesen zu lassen", erklärte Walser. Bis jetzt habe kein Veranstalter diesem Druck nachgegeben. "Deshalb glaube ich immer noch, daß man in diesem Land heute nicht mutig sein muß, um öffentlich zu berichten, welche Erfahrungen man macht mit dem eigenen Gewissen", sagte der Schriftsteller.

Zuvor hatte der Rektor der Universität, Walter Eberhard, in einem Grußwort erklärt, die Universität Duisburg wolle ein prädestinierter Austragungsort von Konflikten in einem Klima geistiger Freiheit sein (einige Wochen zuvor war Ignatz Bubis Gast an der Duisburger Universität). Der Dekan des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft meinte, daß ein freier Schriftsteller "kein bestellter Redner und Literatur keine Maßschneiderei zu sinnvoller Gewandung vorgegebener Gedanken und Meinungen, kein Servicebetrieb für alle Lebenslagen, weit eher schon ein springender Brunnen unausschöpflicher Lebensenergien" sei. Ferner solle niemand von Schriftstellern hehre Botschaften erwarten, weder Visionär noch Hofnarr sollen sie sein, wohl aber unbestechliche, kreative Arbeiter an der Sprache – "unser aller Sprache, die in den Medien im Namen der political correctness leicht zur bloßen Hülle verkümmert oder in dem von wissenschaftlicher Effizienz meist zum leblosen Panzer erstarrt."

Zu Beginn seiner Rede ging Walser auf einen Offenen Brief der beiden Duisburger Professoren Klaus M. Dogal (Fachbereich Germanistik) und Michael Brocke (Fachbereich Jüdische Studien) ein. Darin warfen die beiden Verfasser Walser vor, seine Rede in der Paulskirche sei eine erschreckend polemische Zurückweisung der erinnernden Auseinandersetzung mit der Shoa. Die Geschichts-, Literatur- und andere Wissenschaften hätten sich hingegen seit 20 Jahren um Differenziertheit bemüht und zu einer rationalen Aufklärung beigetragen. Walser hingegen habe "die Deutschen" zu Opfern von Denkern, Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellern erklärt, die sie mit ihren Erinnerungen und moralischen Bekenntnissen an der Verwirklichung ihrer Zukunft hindern würden.

Walser erklärte, er habe seine Reden nach einer "schlichten polemischen Zurückweisung der erinnernden Auseinandersetzung mit der Shoa" durchsucht, die angesichts 20 Jahre wissenschaftlicher Differenziertheit erschrecken könnte. Doch Wissenschaft oder das Wort Universität komme nirgends in seinen Reden vor. Er, Walser, habe eindringlich deutlich gemacht, daß es ihm um die Medien ginge. Wenn er sich polemisch mit Universitätsarbeiten hätte beschäftigen wollen, hätte er sie zur Kenntnis genommen und als unzureichend erlebt haben müssen. "Ich kann mich doch nicht polemisch – und sei es noch so schlicht – zu etwas verhalten, was ich gar nicht kenne."

In seiner Gegenrede betonte Professor Brocke, auch nach Walsers Ausführungen noch immer mit Blick auf dessen Paulskirchenrede keine Befreiung, sondern Belastung zu empfinden. Ein Vertreter der Studenten (bzw. des "Arbeitskreis Walser") verlas in einer Stellungnahme die Gründe, weshalb nach Ansicht des Studentenparlaments die Einladung Walsers politisch unkorrekt und daher "falsch" gewesen sei. Ein Blick ins Internet habe ausgereicht, um Walser als "nationalistischen Vordenker und intellektuellen Rechten" zu outen. Nur gut, daß sich die Universität Gesamthochschule Duisburg als Ort für freies Denken versteht und nicht als Vollstreckerin der politischen Korrektheit.


 
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