© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/98  04. Dezember 1998

 
 
Debatte um die Walser-Rede: Peter Sichrovsky über den Menschen Ignatz Bubis, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und die jüdische Zukunft
"Dann haben wir endlich eine Normalisierung erreicht"
Dieter Stein

Der Streit um die Rede von Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises ist "gefährlich" geworden, wie Richard von Weizsäcker in der "FAZ" geschrieben hat. Was ist denn an diesem Streit altbekannt und was neu?

Sichrovsky: Neu ist, daß eine doch sehr persönliche Aussage eines prominenten, respektierten Schriftstellers und Intellektuellen, der selbst auch die Nazizeit miterlebt hat, nicht beurteilt wird auf der Ebene von richtig oder falsch, sondern von gut oder böse. Neu ist auch, daß eine kritische Aussage über eine gewisse Empfindsamkeit in Bezug auf die Aufarbeitung des Holocaust dazu führt, daß derjenige, der diese Aussage öffentlich tätigt, nicht kritisiert, sondern kriminalisiert wird.

War das aber nicht im Falle des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger ähnlich, der nach seiner Rede zum Volkstrauertag unter öffentlichem Druck zurücktreten mußte?

Sichrovsky: Nein. Jenninger war einen Schritt weiter gegangen und hat sich mit der Schuld und Verantwortung der Nationalsozialisten auseinandergesetzt. Er hat versucht, in der Sprache der Täter, die Tat zu beschreiben. Das ist mißverstanden worden. Ich habe Jenninger damals verteidigt in einem Kommentar als Mitglied der Chefredaktion des Wiener Standard. Ich fand die Verurteilung Jenningers falsch. Nun spricht mit Walser aber jemand, der nicht die Zeit des Nationalsozialismus beschreibt, was er schon etliche Male zuvor getan hat. Walser muß nun wirklich nicht Beweisschuld erbringen, daß er den Holocaust verurteilt. Das hat er schon oft genug getan. Walser sprach aber zum ersten Mal kritisch über die sogenannte Aufarbeitung. Ich nenne das auch den Übergang von der "Schuld ohne Scham" zur "Scham ohne Schuld". Walser hat darauf verzichtet zu betonen, daß die Generation, die schuldig war, sich nie dafür geschämt hat. Er hat jedoch betont, daß er es ablehnt, daß sich eine Generation, die sich nicht schuldig gemacht hat, dafür schämen muß. Diese Aussage ist ein Brückenschlag von der Diktatur zur Demokratie. Die Deutschen haben damals die Nationalsozialisten mit einer großen Mehrheit unterstützt. Es wäre undenkbar gewesen, daß nach dem Krieg nicht auch ehemalige Nationalsozialisten mithalfen, die Demokratie aufzubauen. Aus diesen Familien kommt die zweite, dritte Generation im heutigen Deutschland. Diese Nachkriegsgenerationen dürfen nicht mit einer falschen Verantwortung belastet werden. Sie haben eine historische Verantwortung, die einerseits in der Bewahrung der Erinnerung besteht, andererseits muß aber auch unbelastet von der Vergangenheit eine neue Demokratie aufgebaut werden können. Dazu gehört auch eine kritische Distanz zur Verarbeitung einer Schuld durch eine Generation, die nicht schuldig ist. Sonst kommt es zu einer Verdünnungsreihe von Schuldgefühlen. Und es gibt nichts schlimmeres als ein Volk, das seine Identität auf Schuldgefühlen aufbaut.

Deshalb fliehen auch viele junge Deutsche vor ihrer Identität als Deutscher in den Kosmopolitismus oder in eine Ersatzidentität als Europäer.

Sichrovsky: Wenn man sich heute noch dafür schämen soll, ein Deutscher oder auf deutsche nationale Gefühle stolz zu sein, dann ist da etwas falsch gelaufen in den letzten Jahrzehnten. Und zwar ist da etwas falsch gelaufen in einer – wie ich das nenne – ständigen chemischen Verdünnungsreihe der Schuld. Das Problem, daß die Täter nie die Verantwortung auf sich genommen haben, hat dazu geführt, daß man versucht, diese Verantwortung zu übertragen auf die nächsten Generationen. Und das war einer der größten Fehler der sogenannten "Aufarbeitungs-Hysterie".

Sie haben sich im laufenden Meinungsstreit schützend vor Walser gestellt und gesagt, Walser habe in seiner Rede nur ausgesprochen, was viele denken. Was denken die meisten?

Sichrovsky: Sowohl die Nachkommen der Täter, als auch die Nachkommen der Opfer empfinden große Sympathien für Walser – das weiß ich aus zahlreichen Gesprächen. Die sogenannte Schuldverdünnungsreihe belastet ja nicht nur die Nachkommen der Täter, sondern auch die Nachkommen der Opfer. Sie alle wollen – bei all der Erinnerung, die sie in ihren Herzen bewahren – endlich ein normales Leben führen. Ich kann heutzutage als junger Jude oder als Nachkomme anderer Opfer kein sogenanntes normales Leben als Deutscher führen, wenn ich ständig daran erinnert werde, daß ich in einem Land von ehemaligen und potentiellen Mördern lebe. Das dient niemandem. Vielleicht verarbeiten damit die wenigen Überlebenden, die noch unter uns sind, ihre eigenen Schuldgefühle, weil sie überlebt haben. Wenn Bubis oder andere aber glauben, daß sie damit die Demokratie stabilisieren – und darum und nichts anderes geht es! –, dann irren sie sich. Die Aufarbeitung und die ganze Diskussion hat doch letzten Endes keine andere Aufgabe, als daß endlich in Deutschland die Demokratie stabilisiert wird. Das hilft den Nachkommen der Täter und den Nachkommen der Opfer. Nur dann haben wir eine Chance, in Frieden zu leben.

Warum ist Walser von Bubis nicht verstanden worden?

Sichrovsky: Bubis zu kritisieren, ist sehr schwer. Ich kenne ihn sehr gut, habe mit ihm Monate verbracht und ihn lange interviewt. Ich möchte ihn nicht verurteilen und mich nicht auf seiner Ebene bewegen – ich glaube allerdings, daß Herr Bubis nicht recht hat.

Warum?

Sichrovsky: Herr Bubis irrt, wenn er glaubt, daß er durch eine Dämonisierung und Kriminalisierung einer seiner Ansicht nach falschen Meinung den Antisemitismus verhindert und dadurch die Demokratie stabilisiert.

Liegen denn Bubis und Walser wirklich so weit auseinander? Wie konnte es so weit kommen, daß Bubis Walser "latenten Antisemitismus" vorwirft?

Sichrovsky: Da müssen Sie Herrn Bubis fragen. Ich will das nicht interpretieren, warum er das sagt. Ich nehme mir allerdings die Freiheit, zu behaupten, daß er hier einen schweren Fehler begeht. Wir müssen auch als Juden vorsichtig sein, wie wir uns unsere Feinde aussuchen. Menschen wie Walser gehören zu unseren Freunden, und sie stabilisieren eine neue Demokratie, in der wir uns wohlfühlen können und in der wir leben möchten. Wir können ihn kritisieren, dazu hat Bubis auch das Recht, wir können aber Menschen wie Walser nicht kriminalisieren. Damit destabilisieren wir den Staat, in dem wir leben.

Ist Bubis denn in dieser intellektuellen Auseinandersetzung schlicht überfordert?

Sichrovsky: Bubis ist einerseits ein sehr emotionaler Mensch, der andererseits aufgrund seines Werdeganges ein sehr harter Mensch geworden ist. Ich habe mich auch einmal gefragt, wo er politisch sitzt, links oder rechts? Doch Bubis ist wie ein vier Tonnen schwerer Gorilla. Der setzt sich hin, wo er sich hinsetzen will. Er ist finanziell unabhängig, er ist mit seiner politischen Meinung unabhängig. Er kann einfach machen, was er will. Und so setzt er sich durch und drückt sich aus. Das trifft manchmal die Richtigen und manchmal die Falschen. So ist er eben. Das ist der Grund für seinen Erfolg und Mißerfolg. Er ist kein politisch oder intellektuell gewandter Mensch. Das würde ich ihm nicht vorwerfen – das ist auch das Sympathische an ihm. Wenn er eine Wut hat, teilt er ohne Rücksicht aus.

Gibt es denn nun überhaupt einen Weg zurück?

Sichrovsky: Schwierig. Sie müssen sich auch die Schritte seines kommerziellen Erfolges ansehen. Es ist kein Zufall, daß er als einer der wenigen das Lager überlebt hat, und es ist kein Zufall, daß er aus dem Nichts ein derartiges Immobilienimperium geschaffen hat. So bewegt er sich auch im politischen Alltag. Ich erinnere mich nur an seinen Kampf mit der 68er Generation anläßlich der Frankfurter Häuserbesetzungen. Es ist kein Honiglecken, wenn man ihn als Gegner hat. Das Sympathische an Bubis ist aber, daß er zu seiner Persönlichkeit steht. Ich gehe nicht seinen Weg, ich kritisiere ihn, aber ich respektiere ihn auch und ich finde er hat Großartiges geleistet für die Juden in Deutschland und auch für die Normalisierung der Situation. Im Fall Walser jedoch irrt er.

Wird Bubis politisch instrumentalisiert von Intellektuellen, die sich hinter seinem breiten Rücken verstecken?

Sichrovsky: Das weiß Bubis auch. Er hat einmal gesagt, daß er in Deutschland eine Alibi-Funktion hat. Er wird ständig instrumentalisiert – von der Kohl-Regierung in der Beziehung zu Israel und den USA, von den Linken gegen die Rechten und wird auch manchmal von den Rechten gegen die Linken benutzt, so in seinem Verhalten gegen die 68er. Das ist sein Schicksal. Man darf nicht vergessen, daß Bubis der Vorsitzende eines Mini-Vereins ist. Es gibt insgesamt vielleicht nur knapp 30.000 eingetragene Mitglieder in einem Staat mit 100 Millionen Menschen. Er hat aber eine sehr prominente und dominante Rolle aufgrund der Vernichtungsgeschichte des eigenen Volkes. Das ist immer eine tragische Basis, auf der man sich bewegt.

Ist Bubis überhaupt Akteur oder nicht vielmehr von den Medien getrieben, die ihm bei jeder Gelegenheit das Mikrophon vor die Nase halten und ihn nötigen, zu jedem politischen Ereignis sein Urteil abzugeben?

Sichrovsky: Da haben Sie sicherlich recht. Die Medien schaffen ihm eine unglaubliche Öffentlichkeit, und Bubis’ Fehler ist es vielleicht, damit nicht vorsichtig genug umzugehen. Er genießt es auch, im Rampenlicht zu stehen. Seine Veranstaltungen sind stets gut besucht. Wer hat schon einen derartigen Zugang zu den Medien wie er?

Seine Berater müssen jetzt versagt haben.

Sichrovsky: Ich glaube, daß Bubis keine Berater hat. Er reagiert spontan und sehr emotional. Da schlägt er halt ab und zu daneben.

In Ihrem neuen Buch, "Der Antifa-Komplex", das gerade erschienen ist, greifen Sie solche kampagnenartigen Debatten auf, bei denen es für die Beteiligten nicht um einen konstruktiven Streit, sondern um das Kriminalisieren und Erledigen des Gegenübers geht.

Sichrovsky: Für mich sind solche Kampagnen gleichzusetzen mit einem Fundamentalismus, der in einer Demokratie nichts zu suchen hat. In einer Demokratie nimmt man einen Dialog auf und versucht seinem Gegner zu erklären, warum er nicht recht hat, warum er seine Meinung ändern sollte. Der Fundamentalist geht davon aus, daß es anständige und unanständige Menschen in einem Land gibt. Wenn die Unanständigen beseitigt oder mundtot gemacht worden sind, dann erst könne der Staat funktionieren, so die Fundamentalisten. Durch die Kriminalisierung, durch die Bezeichnung als "Antisemit" und "Verharmlosung des Holocaustes" werfe ich jemand aus dem System des demokratischen Dialoges. Das ist das Prinzip des politischen und religiösen Fundamentalisten. Das hat in einer Demokratie nichts zu suchen.

Das Prinzip funktioniert aber ungebrochen, auch in unserem Land.

Sichrovsky: Deshalb habe ich auch dieses Buch geschrieben. Das ist eine der Hauptmethoden, um in der Demokratie Gesprächspartner zu eleminieren. Das passiert beispielsweise der CDU mit der PDS, und das versuchen die Koalitionsparteien in Österreich mit der FPÖ. Das richtet sich nach links und nach rechts. Je nach Laune wird das interpretiert.

Sie erleben das auch als Europaparlamentarier?

Sichrovsky: Ja. Dort werden ehemalige und Noch-Kommunisten mit sehr viel Wohlwollen behandelt, während Leute, denen man angeblich "rechtsextremes" Verhalten vorwirft, völlig isoliert und aus dem Dialog ausgegrenzt werden.

Sie mußten selbst die Erfahrung der Ausgrenzung machen. Nachdem Ihre Bubis-Biographie erschienen war und publik wurde, daß Sie Spitzenkandidat für Haiders FPÖ sind, brach über Sie eine Pressekampagne herein. Wie ist das, wenn plötzlich Kontakte abgebrochen, Einladungen abgesagt werden und Isolation einsetzt?

Sichrovsky: Das sind für mich typische Kennzeichen für ein postfaschistoides Verhalten, wo wir – vor allem in Deutschland und Österreich – in einer Übergangsphase von einer Diktatur zur Demokratie leben. Ich wurde aber nicht ausgestoßen aufgrund meiner politischen Entscheidung. Mein Kollege Kronberger, der auch für die FPÖ kandidiert hat, wurde weiter eingeladen, konnte überall publizieren – mir hat man aber vorgeworfen, daß ich "als Jude" für Haider kandidiere. Ignatz Bubis hat mich beispielsweise einen "Haider-Juden" genannt. Die Verlage Kiepenheuer& Witsch und Knaur haben alle meine Buchprojekte storniert, der Fischer-Verlag hat sich geweigert, meine Kinderbücher zu drucken, ein Theater in Norddeutschland hatte beispielsweise ein Stück von mir abgesetzt.

Lockert sich das nicht wieder?

Sichrovsky: Langsam. Die Fanatiker unter den "Demokraten" sind wahrscheinlich stolz auf ihre Anständigkeit, haben ihre Meinung nicht geändert, aber es sind andere gekommen. Trotzdem – es hat sich Schauriges abgespielt.

Haben nicht politischer Opportunismus und Feigheit weiter zugenommen?

Sichrovsky: Es gibt eben die eigenartige Interpretation der "Political Correctness": Mir hat ein Mitarbeiter des Knaur-Verlages beteuert, er verlöre Simmel als Autor, wenn sie mich weiter verlegten. Kiepenheuer & Witsch meinten, sie würden Ralph Giordano als Autor verlieren. Man hatte schlicht volle Hosen! Es gibt aber auf der anderen Seite demonstrative Sympathiekundgebungen von Leuten, die nicht politisch mit mir übereinstimmen, die aber sagen, daß ihr Verständnis von Toleranz bedeutet, daß sie diese Ausgrenzung nicht mitmachen können.

Zurück zur Walser-Debatte: Ist die Erinnerung an die Shoa ein Ersatz für eine schwindende jüdische Identität oder gibt es eine Alternative?

Sichrovsky: Wir haben ja gerade in Berlin einen neuen Verband jüdischer Gemeinden gegründet. Das ist ein Signal, daß sich jüdische Identität auf mehr stützen sollte als auf die Erinnerung an die Toten. Ich weigere mich, daß sich mein Leben und meine jüdische Identität nur darauf beruft, daß ich die sechs Millionen Toten nicht vergessen soll. Das ist mir zu wenig, und das widerspricht auch der jüdischen Religion. Die jüdische Religion verlangt von einem Trauernden, daß er sich nach einem Trauerjahr auf das Leben konzentriert, ohne die Toten zu vergessen. Manche sogenannte "Berufsjuden", wie ich sie nenne, benutzen den Holocaust, um zu ihrer Identität zu finden und auch diese Identität gesellschaftlich durchzusetzen. Ich finde das traurig und lehne es ab. Die jüdische Religion bietet mehr als nur die Erinnerung und die Verhinderung der "Vernichtung".

Von wem ging die Initiative für die Gründung Ihres neuen Verbandes aus?

Sichrovsky: Einige Gemeinden hatten mich angesprochen, die aus dem Zentralrat ausscheiden wollten, ob ich bereit wäre, mit ihnen gemeinsam den "Reichsbund der gesetzestreuen jüdischen Gemeinden" wieder zu gründen. Ich habe das mit sehr viel Interesse aufgenommen, und nach längeren Gesprächen in Berlin wurde der Beschluß gefaßt. Zum allgemeinen Erstaunen haben sie mich dann zum Präsidenten gewählt. Ich mag nicht die Gesichter des Zentralrates sehen, als sie das gelesen haben.

Wieviele Mitglieder hat Ihr Verband?

Sichrovsky: Er hat jüdische Gemeinden als Mitglieder. Vertreter von vier Gemeinden waren bei der Gründung vertreten. Weitere zehn haben sich bereits um die Aufnahme beworben.

Bedeutet das eine Spaltung des Zentralrates?

Sichrovsky: Nein. Das ist eine Ergänzung. Es gibt einfach Gemeinden, die sich als gesetzestreu, also orthodox bezeichnen, die sich aufgrund ihres Religionsverständnisses im Zentralrat nicht vertreten fühlen. Das ist die Wiederholung einer Normalisierung, wie sie vor dem Krieg in Deutschland existierte, als es liberale, konservative und orthodoxe Gemeinden gab. Dieser Normalzustand wird jetzt wiederhergestellt. Die Nazis hatten ja die Zusammenfassung in einem Zentralverband einst erzwungen – das wird nun endlich korrigiert.

Wird damit die Bedeutung des Zentralrates in Zukunft schwinden?

Sichrovsky: Er wird eine von mehreren Vereinigungen jüdischer Gemeinden sein. Daneben wird es eben auch andere geben. Heute bin ich neben Ignatz Bubis der zweite Vertreter einer Vereinigung jüdischer Gemeinden in Deutschland.

Tragen nachwachsende nichtjüdische und jüdische Deutsche nicht auch gemeinsam die Verantwortung der deutschen Geschichte in all ihren positiven und negativen Facetten?

Sichrovsky: Jeder, der sich dazu bekennt, Deutscher zu sein, hat eine Verantwortung gegenüber der deutschen Geschichte. Jeder ohne Ausnahme. Wenn jemand diese Verantwortung ablehnt, dann sollte er die Nationalität wechseln. Jeder hat eine Verantwortung gegenüber der Geschichte, und jeder hat eine Verantwortung gegenüber der Zukunft. Jeder mit einem deutschen Paß hat eine Verantwortung für die demokratische Stabilität in diesem Land. Jeder soll sich überlegen, was er dazu beitragen kann, daß wir in einer stabilen Demokratie ohne Krieg und Diktatur leben können. Fundamen-talistische Aktionen, die zur Ausgrenzung von Teilen der Bevölkerung führen, laufen diesen Bestrebungen einfach zuwider.

Stellt die massive Einwanderung und ein Experiment mit einer multikulturellen Gesellschaft anstelle des Nationalstaates das komplizierte Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden zur Disposition?

Sichrovsky: Die ganzen multikulturellen Phantasien der Linken sind doch gescheitert. Das Bild der Zukunft ist nicht der Schmelztiegel, sondern das Mosaik. Das Bestreben der Einwanderer, der Fremden und der Minderheiten ist ja, ihre Kultur zu bewahren und sie nicht aufgehen zu lassen in dem großen Topf der deutschen Kultur. Die Identität der Einwanderer hat sich hier völlig gewandelt. Die heutigen Einwanderer der USA sind beispielsweise im Gegensatz zu früher, als jeder so schnell wie möglich "Amerikaner" werden wollte, stolz auf die Kultur, die sie mitbringen. Und diese wollen sie auch bewahren und schließen sich in Ghettos ab. Dadurch sind ganz neue Probleme entstanden, die auch auf Deutschland zukommen. Die Zukunft Deutschlands ist ein Nationalstaat, in dem jeder, der dort lebt und Deutscher sein will, stolz darauf ist, einen deutschen Paß zu haben und sich als Deutscher zu bezeichnen, und dennoch seine eigene Kultur bewahrt und sie verteidigt gegenüber der Umwelt. Das darf in Zukunft nicht mehr störend sein, sondern muß ein normaler Bestandteil und Anteil der deutschen Kultur sein. Was Bubis angesprochen hat, ist: Es gibt keine Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland. So darf man das heute nicht mehr sehen! Es gibt heute Beziehungen der Deutschen untereinander, die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören. Man muß endlich aufhören damit, die Beziehungen der Juden und Nichtjuden mit der Geschichte zu belasten. Das ist einfach vorbei. Die jungen Juden in Deutschland haben es nicht verdient, daß sie ihre Zukunft auf einen Haufen verbrannter Knochen aufbauen sollen. Bubis vergißt auch, daß es "die Juden" in Deutschland nie gegeben hat und auch nicht gibt. Man kann nicht Einstein mit dem Händler aus Galizien vergleichen. "Die Juden" waren ein Bestandteil der Bevölkerung Deutschlands. Es gab alles unter ihnen – vom Professor bis zum Bettler. Sie waren in ihrer Gesamtheit keine Gemeinschaft, sie wurden erst durch Hitler zu einer Art Not- oder Opfergemeinschaft gezwungen.

Im öffentlichen Umgang stellt sich das Verhältnis doch kompliziert dar. Man redet von deutsch-jüdischem Verhältnis, von Täter-Opfer-Beziehungen ...

Sichrovsky: Das hat sich zu einem absurden Spektakel gesteigert. Es gibt keine Rede eines deutschen Politikers mehr, in der er nicht den Holocaust verurteilt. Wenn er es nicht macht – und wenn er nur einen Kindergarten eröffnet –, dann wird ihm schon Verharmlosung vorgeworfen. Das hat ja auch Walser angesprochen: Diese ständige Wiederholung, daß es einem leid tue – was will man damit erreichen? Abstumpfung! Die unerträgliche Wiederholungswut der "Schuldlos-Schamvollen" schafft höchstens Abwehr und Mißtrauen. Ich will endlich mal eine Rede eines deutschen Politiker hören, wo das Wort Jude oder Holocaust nicht vorkommt, und keinem fällt’s auf. Dann haben wir endlich eine Normalisierung erreicht.

 

Peter Sichrovsky 1947 in Wien geboren, studierte Pharmazie und Chemie. Nach einer kurzen Tätigkeit als Mittelschullehrer gelangte er 1976 in Management-Positionen der Pharmaindustrie. Danach wechselte er zur schreibenden Zunft, war von 1980-84 u. a. für den Spiegel tätig, von 1984-86 als Korrespondent in New York, 1987 Chefredakteur der Männer Vogue, war 1988 an der Gründung der Wiener Tageszeitung Der Standard beteiligt und bis 1991 Mitglied der Chefredaktion. Danach war er als Korrespondent verschiedener Tageszeitungen in Fernost tätig. Aufsehen erregte 1996 seine Spitzenkandidatur für Jörg Haiders FPÖ, für die er seitdem im Europaparlament sitzt. Seit wenigen Wochen ist Sichrovsky Vorsitzender des "Bundes der gesetzestreuen jüdischen Gemeinden in Deutschland"

Literatur: "Schuldig geboren" (Köln 1987), "Unheilbar deutsch" (Köln 1993), "Damit bin ich noch lange nicht fertig – Die offizielle Biographie Ignatz Bubis" (1996), "Der Antifa-Komplex" (München 1998)


 
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