© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Neue Zeitrechnung
von Dieter Stein

Wir erleben den Beginn einer neuen Zeitrechnung in Deutschland: "Nach Walser" sagt man und meint die veränderte politische Kultur seit der Rede des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels. Klaus von Dohnanyi schildert das öffentliche Gelände als vermint von Tabus. Jetzt seien einige der Minen hochgegangen und das Gelände freier. Auch kritisiert von Dohnanyi das feige Verhalten von deutschen Intellektuellen, die zum überwiegenden Teil den feuchten Finger in die Luft höben, nicht um sich kritisch zu Wort zu melden, sondern um zu spüren, woher der Wind wehe. Da dieser derzeit aber kreuz und quer weht, bleiben die meisten in Deckung. Die Namen derer, die sich dennoch einmischen, wird man sich merken müssen. Es sind die Mutigen, die ihrem Namen Ehre machen.

Ignatz Bubis ist zugute zu halten, daß er den Streit öffentlich führt. Es war nämlich im Laufe der letzten Jahrzehnte in (West-)Deutschland zu einem der widerwärtigsten Merkmale der politischen Kultur geworden, daß kontroverse Fragen bewußt nichtöffentlich debattiert wurden. Daran erinnerte auch Klaus von Dohnanyi, der von einem "grauen Schleier" sprach, der die Köpfe lähme. So sehr man Bubis’ Beschuldigungen in Richtung Walser, von Dohnanyi, Augstein, Enzensberger und Strauß verurteilen muß, die er zu "latenten Antisemiten" stempelte, so nötigt sein Temperament Respekt ab. Dadurch, daß er überzieht, normalisiert er die Streitkultur in Deutschland: Jawohl, ein Zentralratsvorsitzender irrt, er wird beleidigend, und er setzt sich nicht zwangsläufig im öffentlichen Streit durch.

Bubis soll es nicht verwunden haben, daß seine Angriffe auf Botho Strauß nach dessen Essay "Der anschwellende Bochsgesang" nicht zum Ausschluß des Bühnenautoren aus dem Diskurs geführt habe. So oder so: Bubis ist für einen handfesten Streit ohne Bandagen zu haben – und daß er nichts mehr verachtet, als die Servilität von Intellektuellen, die zu einem solchen Streit zu feige sind, gleichgültig ob für oder gegen ihn. Es wird zwischen den Kontrahenten, die sich jetzt eingemischt haben, deshalb wohl eher zum Einvernehmen kommen als mit denjenigen, die derzeit zu feige sind, den Mund aufzumachen.

Der Streit Bubis-Walser hat zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden beigetragen. Und er leistet mehr gegen tatsächlich vorhandenen Antisemitismus, der gerade vom Unausgesprochenen lebt – nach dem Motto: "Bubis darf man nicht kritisieren." Man kann es.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen