© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Südtirol: Nach fast zwei Jahren Haft wird Peter Paul Rainer freigesprochen
Kein Ende im "Fall Waldner"
Jakob Kaufmann

Mittwoch, 2. Dezember, 19.15 Uhr. Das Berufungsschwurgericht von Trient spricht Peter Paul Rainer frei. Die Zuschauer im Gerichtssaal jubeln, fallen sich in die Arme. 19 Uhr 59: Der ehemalige Bildungsoffizier des Südtiroler Schützenbundes und Ex-Chefideologe der Freiheitlichen in Südtirol verläßt als freier Mann das Gefängnis. Die Insassen der Haftanstalt applaudieren, im Gang hallt der Applaus wider.

Rainer war im August vorigen Jahres wegen des Mordes an Freiheitlichen-Mitbegründer Christian Waldner zu 22 1/2 Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte die Tat zunächst gestanden, das Geständnis aber widerrufen. Die Beweisführung der Anklage war allenfalls mangelhaft. Seine Anwälte Roland Riz und Giampiero Mattei gingen in Berufung. Nun war die Überraschung perfekt. Niemand hatte mit einem Freispruch gerechnet. Nicht, weil die entlastenden Argumente der Verteidigung nicht ausgereicht hätten. Vielmehr rechneten Beobachter mit einer politisch motivierten Verurteilung: Bereits im Vorverfahren sprach der Journalist Artur Oberhofer von der Neuen Südtiroler Tageszeitung von einem "politischen Komplott" gegen Rainer.

Oberhofer veröffentlichte Ende Mai dieses Jahres ein Buch über den "Mordfall Waldner", in dem er seine These mit Fakten belegte. Dreitausend Seiten Gerichtsakten hatte er gelesen und nachrecherchiert. Oberhofer, dem die Rolle des Enthüllers in diesem Polit-Thriller zukommt, wies nach, daß Rainers Geständnis falsch war. Es war unter Druck entstanden und stimmte in wesentlichen Punkten nicht mit den objektiven Fakten überein. Das hätten auch die Ermittler sehen müssen. Jedoch hatten sie es offensichtlich manipuliert: Anklage und Verteidigung hatten im Berufungsverfahren ein Gutachen über Rainers geistig-seelische Verfassung beantragt. Der beauftragte Psychiater von der Universität in Bologna bestätigte, daß der junge Politiker in der Verhörnacht unter großem psychischen Druck stand. Dies sei unabhängig davon, ob die Ermittler denselben tatsächlich ausübten oder er ihn nur empfand. Er habe in dieser Situation eine Panikattacke erlitten und sei somit "geständig" geworden.

Die Ermittler könnten durchaus von Rainers psychischen Problemen Kenntnis gehabt haben: Er wurde von der Polizei beschattet. Oberhofer veröffentlichte in seinem Buch einen Befehl zum Lauschangriff gegen Rainer aus dem Jahr 1989. Der Psychiater verglich die Protokolle mit den Tonbandaufzeichnungen des Verhörs. Er stellte fest, daß Rainer monoton mit "Ja, ja" auf Suggestivfragen geantwortet hatte. In den Protokollen wurden ihm die Fragen der Polizisten als Antworten in den Mund gelegt. Als der Psychiater die Ergebnisse vor Gericht vortrug, bezichtigte ihn der Staatsanwalt der Einseitigkeit. Nach Rainers Aussage sei er in der Verhörnacht vor die Wahl gestellt worden: "Wir können alles. Sie zum Mörder machen oder als freien Bürger bei der Tür herausgehen lassen."

In zahlreichen Briefen begründete Rainer sein Geständnis, noch bevor er es offiziell zurückzog. Er schilderte, wie die Ermittler damit drohten, in über 30 Wohnungen der Südtiroler Schützen und der Freiheitlichen Durchsuchungen anzuordnen. Als führender Kopf im Schützenbund und bei den Freiheitlichen sah er durch diese Polizeimaßnahme jahrelange politische Arbeit gefährdet. Er versuchte, den politischen Schaden zu begrenzen, den der Vorwurf des Mordes anrichtete. Aus diesem Grund gab er persönliche Motive für die Bluttat an, die er nicht begangen hatte.

In einem Brief, den er nach seiner Verurteilung verfaßte, begründete er seine Entscheidung: "Ich sah mich in der bestens bekannten italienischen Willkürfalle und konnte nur durch ein Geständnis politische Schadenbegrenzung machen. Die weiteren Bestätigungen waren einfach, war mir doch klar, daß der Staatsanwalt nichts von der Wahrheit glauben würde, er hätte bei einem früheren Rückzug meines Geständnisses nur um so verbissener einen politischen Auftragsmord nachweisen wollen, und ich wäre dennoch in Haft geblieben und hätte niemandem helfen können, zudem wäre meine Untersuchungszeit verlängert und verlängert und verlängert worden. Ich wollte aber so schnell als möglich vor ein Gericht, aber auch das nützte wenig."

Die politischen Auswirkungen blieben dennoch nicht aus: Seine Partei, die Freiheitlichen, fielen bei den letzten Landtagswahlen am 22. November von 6,1 auf 2,5 Prozent. Die Parteispitze führte dies auf die Schießübungen zurück, die Rainer im Büro veranstaltet hatte. Die Einschüsse waren erst nach dem Mord an Waldner entdeckt worden. Die peinliche Schießerei, an der zwei weitere Personen beteiligt waren, werteten die Ermittler als Belastungsmoment gegen Rainer. Die Staatsanwälte beider Instanzen begründeten ihre Anklage aber vor allem mit dem Umstand, daß Rainer das Geständnis noch dreimal wiederholte. Der erste Anwalt, der ihn vom Zeitpunkt der Festnahme an drei Monate vertrat, Sandro Canestrini, hatte ihm dazu geraten, bei der Version zu bleiben. Der Italiener argumentierte, es handele sich um einen politischen Fall, einer Verurteilung könne sein Mandant nicht entgehen. Er könne jedoch ein relativ geringes Strafmaß mit dem Argument aushandeln, Rainer sei zum Zeitpunkt der Tat unzurechnungsfähig gewesen. Der Angeklagte vertraute dem Anwalt und nahm den Rat zunächst an. Da Canestrini immer weniger Engagement im Fall seines Mandanten zeigte, wechselte Rainer nach drei Monaten Strategie und Rechtsbeistand.

Neben der Wahl des ehemaligen Senators und Obmanns der SVP, Roland Riz, zum Anwalt spielten die Enthüllungen Oberhofers eine wesentliche Rolle bei der Entlastung Rainers. Mitte November wurde Oberhofers Redaktion ein Dokument auf dem Papier des italienischen Inlandsgeheimdienstes Sisde zugespielt. Darin wird eine geheime "Operation Erzengel" beschrieben. Dem Bericht zufolge habe der Geheimdienst Südtiroler angeworben, um mit der Ostmafia Geschäfte zu arrangieren. Christian Waldner sei angeworben worden und habe sich zu einem unkontrollierbaren Risiko entwickelt. Aus diesem Grund sei er liquidiert worden. Dem Report zufolge wurde der Tatort, das Hotel Reichrieglerhof in Bozen, rund um die Uhr beschattet, jede Bewegung wurde dokumentiert.

Einzelne Zielobjekte, Menschen aus dem Umfeld Waldners, wie Peter Paul Rainer, wurden darüber hinaus überwacht. Der Bericht beschreibt alle Aktivitäten Rainers am Tag der Ermordung seines politischen Weggefährten und entlastet ihn. Das Dokument wurde unterschiedlich beurteilt: Der Vorsitzende der Überwachungskommission der Geheimdienste im römischen Parlament, Franco Frattini, hält es für gefälscht. Er bestätigte jedoch, daß das verwendete Briefpapier zwar veraltet, aber original sei. Frattini möchte eine Untersuchung einleiten. Der Geheimdienstexperte Guiseppe De Lutiis meint, der Bericht könne authentisch sein. Möglicherweise ist das Papier zwar nicht gefälscht, aber nachträglich aus Wahrheit und Lüge konstruiert, um Verwirrung zu stiften. Dem Fall Rainer konnte es jedenfalls nicht mehr schaden. Der Fall Waldner, zunächst scheinbar mit dem ersteren verknüpft, wird hingegen immer verwirrender.


 
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