© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Sozialhilfe: Der Anreiz zur Arbeitsaufnahme ist äußerst gering
"Arbeit lohnt nicht!"
Bernd-Thomas Ramb

Endlich weg von der Sozialhilfe. Stolze 3.000 Mark Monatsverdienst stehen nun ins Haus. Guter Lohn für ehrliche Arbeit. Doch die Freude über den neuen Job wird getrübt. Der Blick auf den Kontoauszug am Monatsende ruft Entsetzen hervor: Gerade einmal 328 Mark sind jetzt mehr in der Haushaltskasse. Ein Bankirrtum? Ein Wirtschaftsbetrug? Eine Zeitungsente? Nein, das deutsche Sozialhilfegesetz!

Während in der Öffentlichkeit vielfach ein vermeintlich zunehmendes Auseinanderklaffen von reich und arm menetekelt wird, schnappt weitgehend unbemerkt die Schere zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen immer weiter zu. Arbeiten wird bestraft, und das nicht nur auf der untersten Lohnebene. Wer als Sozialhilfeempfänger einen Job annimmt, der mit einem Bruttogehalt zwischen 1.400 und 3.000 Mark entlohnt wird, bekommt nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben seine Sozialhilfe so weit gekürzt, daß für eine Familie mit zwei Kindern im Alter von fünf und elf Jahren in jedem Falle nur 328 Mark vom Arbeitslohn übrig bleiben.

Ein von der informedia-Stiftung für Gesellschaftswissenschaften und Publizistik in Düsseldorf gefördertes Forschungsprojekt bringt aber noch mehr zutage. Bis 1990 folgte die Sozialhilfe in Deutschland dem System der Abdeckung des soziokulturellen Mindestbedarfs. Dazu wurde ein entsprechender Warenkorb zusammengestellt und dessen Geldwert als Sozialhilfe ausgezahlt. Stiegen die Preise dieses Warenkorbs, erhöhte sich auch die Sozialhilfe. Zur Anpassung der Sozialhilfe an einen gestiegenen Mindestbedarf konnte eine Ausweitung des Warenkorbs beschlossen werden. Durch dieses System erhöhte sich die Kaufkraft der Sozialhilfe von 1985 bis 1990 in gleichem Umfang wie der reale Wert der Arbeitseinkommen mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 2,4 Prozent.

Seit 1991 läuft diese Entwicklung jedoch kräftig auseinander. Bis 1995 stieg die Sozialhilfe nochmals um insgesamt 1,5 Prozent an. Die Arbeitseinkommen sanken in diesem Zeitraum jedoch um fünf Prozent. Die steigende Belastung mit Steuern und Sozialabgaben drohten den Unterschied zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit immer mehr verschwinden zu lassen. Eine Reform des Sozialhilfesystems im Jahre 1996 koppelte deshalb die Erhöhung der Sozialhilfe an die Entwicklung der Nettoeinkommen. Allerdings nicht sehr konsequent und von einem zu hohen Niveau der Sozialhilfe ausgehend, wie die jüngste Entwicklung signalisiert. Mitte 1996 stieg die Sozialhilfe um ein Prozent, im letzten Jahr um 1,5 Prozent und in diesem um 0,25 Prozent. Der Realwert der Arbeitseinkommen ist jedoch in diesem Zeitraum bestenfalls konstant geblieben, wenn nicht sogar leicht gesunken.

Kritik erntet aber vor allem die Abstufungsregel der Sozialhilfe im unteren Lohnbereich. In einer Modellrechnung des Kölner Instituts für Wirtschaft für eine vierköpfige Familie mit 2.200 Mark Sozialhilfe im Monat kommen die Wirtschaftsforscher zu folgenden Ergebnissen: Bis 200 Mark Zusatzverdienst erfolgt keine Kürzung der Sozialhilfe. Bei 600 Mark kürzt das Sozialamt etwa 337 Mark, so daß nur 63 Mark mehr in die Familienkasse fließt, als wenn nur 200 Mark hinzuverdient werden. Prozentual ausgedrückt behält der Staat 56 Prozent des Zusatzverdienstes ein. Nimmt der Sozialhilfeempfänger gar einen mit 800 Mark dotierten Job an, werden außerdem Steuern und Sozialabgaben in Höhe von 168 Mark fällig. Nach der Kürzung der Sozialhilfe um 364 Mark bleibt ein Zusatzeinkommen von 267 Mark übrig. Ganze vier Mark mehr als bei einem 600-Mark-Job. Oder wieder in Relation ausgedrückt: Vom Arbeitseinkommen bleibt nur ein Drittel übrig.

Darüber hinausgehende Arbeitsverträge führen zu besonders krassen Kürzungen. Bei den Arbeitseinkommen zwischen 1.400 und 3.000 Mark wird rigoros auf ein konstantes verfügbares Einkommen von 2.528 Mark herabgekürzt. Zum Schluß bleibt kaum mehr als zehn Prozent vom Arbeitseinkommen übrig. Bei einem Restbetrag von 328 von ehemals 3.000 Mark Arbeitseinkommen fällt die Familienkasse um gerade einmal 65 Mark höher aus als bei Aufnahme eines 600-Marks-Jobs.

Arbeitsunwillige Sozialhilfeempfänger verhalten sich also ökonomisch vollkommen rational. Der Anreiz zur Arbeitsaufnahme besitzt einen pekuniär unerheblichen Gegenwert. Allenfalls soziales Prestige könnte zur Arbeitsaufnahme motivieren. Zyniker dagegen argumentieren, Arbeitslose würden bei einer eigenen Arbeitsaufnahme einem anderen Arbeitslosen den Arbeitsplatz wegnehmen. Systemkritiker wiederum behaupten, wer arbeitet, ist nicht nur dumm, sondern unterstützt mit seinen Steuerzahlungen auch noch das falsche Sozialsystem.

Zur Lösung der staatlich verordneten Hängematten-Mentalität bieten sich wenige, aber klare Ansatzpunkte an. Einerseits kann über die Höhe der Sozialhilfe nachgedacht werden. Ihr Ausmaß bedarf sicher einer permanenten Überprüfung, nicht nur anhand der Einkommensentwicklung der arbeitenden Bevölkerung, sondern auch am tatsächlichen soziokulturellen Mindestbedarf gemessen, der wiederum selbst einer ständigen Definitionsprüfung bedarf. Auch die Form der Hilfe ist bedenkenswert. Lebensmittelschecks oder andere Warenbezugsscheine verhindern nicht nur eine zweckentfremdete Verwendung der Gelder, sondern verdeutlichen auch den von der Gesellschaft als lebensnotwendig erachteten Warenkorb. Die unreflektierte Anpassung der Bezüge an das Realeinkommen der arbeitenden Bürger müßte im übrigen auch zu konsequenten Kürzungen führen, wenn diese Realeinkommen sich zurückentwickeln.

Mehr noch aber verhindert auf der anderen Seite das überzogene Steuer- und Sozialabgabensystem eine deutliche und notwendige Differenzierung zwischen Lohneinkommen und Sozialhilfe. 1998 mußte der durchschnittliche Lohnempfänger mehr als 41 Prozent seines Einkommens an den Fiskus oder die staatlichen Zwangsversicherungsanstalten abführen. Vor nicht ganz zehn Jahren waren es nur 35 Prozent. Der Unterschied zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen, der nach Meinung der Sozialexperten mindestens 15 Prozent betragen sollte, ist auf Werte zwischen null und fünf Prozent gesunken. Vor die Entscheidung gestellt, entweder für den Staat und seine Sozialinstitutionen zu arbeiten oder lieber vom Staat Sozialleistungen zu empfangen, fällt für immer mehr Bürger die Wahl zugunsten der zweiten Variante aus.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen