© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Pankraz,
Ovid und die Sehnsucht nach dem Verborgenen

In einer Vorlesung über Epikur konnte Pankraz richtig sehen, wie die Studenten die Ohren spitzten, als er auf das berühmte "láthe biósas" zu sprechen kam, das als Motto über dem Garteneingang des Philosophen hing: "Lebe im Verborgenen!" Und das Interesse wuchs, als Pankraz von den römischen Epikuräern erzählte, Lukrez, Ovid, Horaz, die das Motto ihres Meisters noch drastisch verschärften. "Bene vixit qui bene latuit", seufzte Ovid, "nur der hat gut gelebt, der sich gut zu verstecken wußte". Da hatte also einer schon vor über zweitausend Jahren die Nase so voll gehabt von der Öffentlichkeit und von der Politik und von den Medien, daß er sich das gute Leben nur noch im tiefsten Versteck vorstellen konnte. Sehr interessant.

Im allgemeinen gilt ja heute das strikte Gegenteil: "Nur das ist gutes Leben, was in die Medien kommt." Die Reichen und die Schönen drängeln sich geradezu nach Öffentlichkeit. Eine rauschende Party ist nur noch halb so rauschend, wenn sie nicht "übertragen", nicht in irgendeinen Kanal "eingespeist" wird. Jeder möchte zumindest Adabei sein und wenigstens einmal in die Kamera winken dürfen.

Daß man im selben Takt "die Ruhe" sucht, Grundstücke und Wohngelasse fern vom Verkehrslärm, unbehelligt von Steuerfahndern und Schutzgelderpressern und Paparazzi, ist dazu kein Widerspruch. Was man den groben Paparazzi verweigert, das steckt man planvoll beflissen-diskreten Hofberichterstattern und Hochglanzmagazinen. Man möchte die Medien keinesfalls meiden, man möchte sie nur selber kommandieren. Keine Spur von "Lebe im Verborgenen!"

Bei den sogenannten höheren, geistigen Genüssen, die Epikur so teuer waren, ist das fast noch offensichtlicher als beim bloßen Essen, Trinken oder Lieben. Intellektuelle Diskurse werden faktisch nur noch veranstaltet, wenn sie vorher bei den Medien angemeldet sind. Man spricht nicht mehr miteinander, sondern nur noch gemeinsam zum Fenster hinaus. Wenn einmal eine Geistesgröße Versteck spielt, dann lediglich aus medienpolitisch-taktischen Erwägungen, beispielsweise um "die Spannung zu erhöhen", den "richtigen Moment" zum Platzen der Bombe abzuwarten usw. Wirklich verstecken will sich keiner mehr.

Oder vielleicht doch? Das ungewöhnliche Interesse der Studenten für den Garten Epikurs brachte Pankraz auf ganz merkwürdige Gedanken. Wächst etwa, so fragte er sich, gerade in der jungen Intelligentsia eine neuartige Sehnsucht nach Verborgenheit heran, nach Aufrichtung von Geheimnissen, nach hochelitären Diskursen und Kulturpraktiken, die der Öffentlichkeit ausdrücklich vorenthalten werden, ja, deren Pointe geradezu darin besteht, daß sie nicht ins Fernsehen kommen?

Verständlich wäre es, allzu verständlich. Dem Sog zum Öffentlichmachen von allem und jedem wohnt etwas äußerst Pöbelhaftes inne, eine fade Gier nach Einebnung jeglicher Differenz, auch heimliche Zerstörungswut aus gleichmacherischer Ranküne. Es soll nichts mehr geben, an dem nicht jedermann sofort sein Maul wetzen darf, auch wenn er nicht im geringsten zuständig ist. Daß das guten Jungen auf die Nerven zu gehen beginnt, läßt sich ohne weiteres nachvollziehen.

Überhaupt wäre ja zu fragen, ob ein Kulturfortschritt, eine schöpferische Caprice, jemals möglich ist ohne intensive Abschirmung vor der großen Öffentlichkeit, ohne Versteck und Geheimnis. Neue Ideen wollen reifen wie das Küken im Ei. Was zu früh aufgeschlagen wird, läuft nur als Dotter aus. Erscheinen kann letztendlich nur, was vorher im Verborgenen geblüht hat.

Und beileibe nicht alles, was im Verborgenen blüht, muß unbedingt erscheinen. Jede effektive, wohltätige Institution, ob Staat, Konzern oder Gelehrtenverein, braucht gewisse Dunkel- oder wenigstens Grauzonen, um funktionieren zu können, gewisse geheime Versuchslaboratorien und Kraftwerke. Allzu viel Geheimnistuerei führt zu Stasi und Stagnation, das ist mittlerweile klar. Aber völliger Verzicht auf Geheimnis führt ebenfalls zu (öffentlicher) Gedankenpolizei und, damit verbunden, zu Stagnation, wie unsere "demokratische Informationsgesellschaft" soeben zu beweisen im Begriffe ist.

Kein geringerer als Goethe hat oft über die Konstellation nachgedacht. "Das Geheimnis hat sehr große Vorteile", läßt er seinen Wilhelm Meister sagen, "denn wenn man dem Menschen gleich und immer sagt, worauf es ankommt, so denkt er, es sei nichts dahinter." Und in der "Natürlichen-Tochter" tönt es warnend: "Geheimnis nur verbürget unsre Taten...." Da spricht gewiß nicht nur der klassische Dichter, der seinen Horaz und Ovid intus hat, sondern auch der politikerfahrene weimarische Minister.

Was Epikur betrifft, so entsprang sein Ruf nach der Verborgenheit freilich weniger staatsmännischem Kalkül als einem großen Ekel vor der damaligen Politik in Athen, die nichts mehr von der Größe einstiger perikleischer Taten spüren ließ. Ganz ähnlich mag es mit besagten Studenten stehen, die anläßlich Epikurs die Ohren so spitzten. Auch sie haben einen Ekel vor der gegenwärtigen Politik, nicht zuletzt vor ihrer völlig auf billige Medieneffekte zugespitzten Form, vor dem Schmierentheater und der Scheinwerfergeilheit.

Ob aber nun politisches Kalkül oder Politikekel – eine Rückwendung heranwachsender Elitetypen zu Epikur und Goethe, eine Rehabilitierung hermetischer, auf Verborgenheit bedachter Kommunikationsformen im kleinen Kreis, erschiene Pankraz hochwillkommen und hoch an der Zeit. Das moderne Leben würde durch solche Kommunikationsformen zweifellos bereichert. Neue Vorstellungen von Vornehmheit und Eingeweihtsein könnten entstehen, neue Wertehierarchien, neue Maßstäbe für Qualität. Und neue Redeweisen wie diese: "Das war nicht im Fernsehen, das muß wirklich gut sein."


 
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