© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/98  11. Dezember 1998

 
 
Berliner Philharmoniker: Daheim ignoriert, im Ausland hofiert
Anspruchsvolles für die Samurai
Hans-Jörg von Jena

"In Berlin wird immer alles so hingenommen", konstatierte bereits Wolfgang Stresemann, der langjährige, kürzlich verstorbene Intendant des Philharmonischen Orchesters in Berlin. Was zu Herbert von Karajans Zeiten galt, gilt heute nicht minder. Gewiß sind die Berliner stolz auf ihr berühmtes Orchester. Aber kaum jemand macht sich klar, daß mit ihm – und eigentlich nur mit ihm – die Stadt wirklich jene hauptstädtische und internationale Spitzenstellung hält, die auf allen anderen Gebieten (von Politik und Presse über Industrie und Handwerk bis zu Kunst und Sport) bestenfalls Zukunftsmusik ist.

Draußen sieht man da schärfer. Deshalb sind die Berliner Philharmoniker für Konzertreisen begehrte Gäste. Als ein Schwerpunkt hat sich dabei die dreiwöchige Tournee in die USA und Japan in jedem zweitem Herbst herausgebildet. Sie begann dreimal mit höchst erfolgreichen Konzerten in der New Yorker Carnegie Hall. Von da aus führte der Flug über den Kontinent und den Pazifik über eine so weite Strecke, daß auf Hokkaido, der nördlichsten der japanischen Hauptinseln, ein Zwischenstopp eingelegt werden mußte. Das Kerosin hätte bis zum Ziel Fukuoka sonst nicht gereicht. Von Japans südlichster Millionenstadt führte die Tour weiter nach Osaka, Tokio, Yokoham und Nagoya.

Die Geschichte der europäischen Musik in Japan ist noch nicht geschrieben. Wenn sie eines Tages erscheint, wird sie eine Liebesgeschichte sein. Wie sich das fernöstliche Land in wenigen Jahrzehnten von aufflammender Neugier bis zum alles (auch die eigene Tradition) beherrschenden Musikbetrieb Europas großes Erbe von Bach bis Boulez zu eigen gemacht hat, das übertrifft noch die staunenswerte Assimilationsleistung von einst, den Sprung vom Samurai- Mittelalter in die Industrialisierungsepoche. Es zeigt alle Phasen einer Leidenschaft, die längst in eine stabile Beziehung mündete. Zahllose Konzerthallen von 1500 bis 2000 Plätzen, die noch immer neu entstehen, und die dicken Packen von bunten Blättern in DIN-A 4-Größe mit Konzertankündigungen, die jedem Besucher in die Hand gedrückt werden, weisen deutlich darauf hin, daß es sich nicht etwa um die exklusive Vorliebe eines Geistes- oder Geldadels handelt, sondern um eine Bewegung von breitester Popularität.

Karajan wurde in Japan zum Abgott und ist es geblieben. Seinen brieflichen Gruß an die Tokioter Suntory Hall, die er noch mit einweihen konnte und in der die Berliner Philharmoniker seither auftreten, hat man in Stein gemeißelt. Der Platz vor der Halle heißt nach ihm. Claudio Abbado, der Unauffällige, eignet sich zum Pult-Abgott kaum. Dennoch hat man auch auf ihn viel von der dankbaren Verehrung für den Vorgänger übertragen.

Neben Mozart, Schumann, Debussy und Ravel hatte er Anspruchsvollstes im Reisegepäck: Bruckner und Mahler. Mit der herben Höhenwanderung von Bruckners 5. Symphonie kommen auch europäische Beethoven- oder Wagner- Enthusiasten keineswegs immer zurecht; noch Furtwängler sah die Wirkung Bruckners auf den spezifisch deutschen Kulturkreis beschränkt. Die japanischen Zuhörer aber bejubelten die Urgewalt und atemberaubende Schlüssigkeit dieses musikalischen Riesenbaus lauthals. Jeden Verdacht, sie entzückten sich lediglich an artistischen Spitzenleistungen (die die Philharmoniker in allen Gruppen tatsächlich Abend für Abend boten), zerstreuten die Augenblicke atemloser Stille nach Gustv Mahlers 3. Symphonie. "Was mir der Mensch erzählt" (Mahlers ursprünglicher Titel für das ergreifende Finale), es schien hier wirklich von Herz zu Herzen zu gehen.

Zurück in Berlin, machten sich die Philharmoniker an ihr zentrales Projekt der Spielzeit, den "Mythos von Liebe und Tod." Er hat musikalisch nirgends tieferen, berauschenderen Ausdruck gefunden als in Wagners "Tristan und Isolde", die Abbado in der Philharmonie konzertant aufführte. Soll man sagen: "nur" konzertant ? Einmal stand die Musik ohne jede Ablenkung im Mittelpunkt, war das Orchester der kollektive Star. Ereignis genug.

Abbado (der sich, mit jetzt 65, des "Tristan" erstmalig annahm) überraschte mit einem zwingenden Konzept. Er bevorzugt einen dunklen Grundton: deshalb plaziert er die Bratschen dorthin, wo sonst die ersten Geigen sitzen. Er läßt die Musik in ihrer nächtlichen Lyrik schimmern und leuchten: die Musiker tun ein Äußerstes an Klangdifferenzierung und Pianofinesse. Aber er gibt auch den dramatischen Ballungen und Aufgipfelungen bewußt volles Maß. So abwechslungsreich in den Tempi und der Dynamik wie hier erlebt man den "Tristan" nicht oft. Die großartigen Sänger, voran die überwältigend intensive Debora Polaski und der hellstimmige Ben Heppner in den Titelpartien, tun dazu das ihre.

Übrigens verleugnet Claudio Abbado beim "Tristan" nicht den Italiener. Wo bei Wagners "unendlicher Melodie" sonst fast immer die schwermütige Unendlichkeit betont wird, da entdeckt er die Melodie. Auf einem Umweg rückt Wagners radikalstes Werk, ohne an Tiefe zu verlieren, der herrlichen Gesanglichkeit einer italienischen Oper (die Wagner ursprünglich geplant hatte) nahe. In Salzburg, zu Ostern 1999, wird Klaus Michael Grüber die Aufführung szenisch ergänzen. Damit geht´s dann, bei der nächsten Japan-Tournee, im Herbst 2000 nach Tokio.


 
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