© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Politik und Geschichte: Die Walser-Debatte hat Türen geöffnet und Tabus gesprengt
Ende des Schweigens
Werner Olles

Im Zeitalter der Weltbürgerkriege und Fundamentalismen, im Jahrhundert der Extreme und des politischen Furor ist die Feindlichkeit gegenüber dem Denken Mode geworden. Der moderne Größenwahn ist an die Stelle des Glaubens an Gott getreten. Grundsätze und Dogmen werden als lästig angesehen, der Wille, sich selbst zu begreifen, scheint verloren zu gehen. Davon zeugt nicht zuletzt jene als "Walser-Bubis-Kontroverse" bekannt gewordene Diskussion, die bis hin zu dem vier Stunden dauernden und drei ganze Zeitungsseiten füllenden Gespräch zwischen den Kontrahenten dennoch eine zutiefst deutsche Debatte geblieben ist. Walsers Position jenseits der indifferenten Konturenlosigkeit und Routine des intellektuellen Betriebes nötigte Bubis wohl eine Art Respekt ab, den er der servilen Beflissenheit vieler anderer, die in diesem Streit schwiegen, nicht mehr zugesteht. Auch deshalb dürfte Ignatz Bubis den Vorwurf des "geistigen Brandstifters" an Martin Walser zurückgenommen haben.

Die Beharrlichkeit, mit der diese Debatte geführt wurde, hat bislang fest verschlossene Türen und Fenster aufgestoßen, durch die inzwischen eine frische Brise weht. Zwar ist es Mode geworden, schlecht über die 68er zu sprechen, aber die jahrzehntelange geistige und kulturelle "Vermuffung", die als Folge der sogenannten "Kulturrevolution" um sich griff, bewirkte in der Tat auch, daß neue Denkverbote, Tabus und Ausgrenzungen es zunehmend erschwerten, eine diskussionsfähige Basis zu schaffen.

Die Ersetzung des antikommunistischen Tabus durch das Tabu des "Antifaschismus" als Ziel des "demokratischen Diskurses" hielt jedoch lange genug durch, um den Gegensatz von historischer Realität und inhaltsleerer Symbolik derart zu verschleiern, daß kaum noch jemand bemerkte, wie die 68er-Revolution in purer Restauration erstarrte.

Darauf hat der Berliner Soziologe Bernd Rabehl – einer der Exponenten der 68er Revolte, enger Weggefährte des Studentenführers Rudi Dutschke und ehemals Spitzenfunktionär des SDS – bei den "Bogenhauser Gesprächen" hingewiesen (siehe Seite 4-5). Rabehl stellt fest: "So wie es keine Klassen- und Arbeiterkultur mehr gibt, so existiert in Deutschland kaum noch eine nationale Identität." Rabehl sieht das Vordringen von Kriminalität und Korruption anstelle eines politischen Willens: "Ein Volk, eine Mischung aus Masse, Konsument, Käufer, Klientel, muß sich das bieten lassen, denn es besitzt keinerlei Kraft mehr, eigene Interessen zu formulieren. Die Eliten haben ihre Verantwortung deligiert an Großbürokratien und Verwaltungsakte. Sie verhalten sich als Kaste, Klüngel oder Clique, die den inneren Beziehungen von Zugriff, Selbstbedienung, Gefolgschaft und Selbstversorgung genügen." Dort, wo Völker keinerlei Kultur oder Identität mehr besitzen, so Rabehl, "ist keine Entscheidung zum Kurswechsel möglich. ... So gesehen haben die Fremden, die nach Deutschland fliehen, sogar recht, sich nicht anzupassen, um selbst nicht zu verschwinden in Dekadenz und Lethargie."

Diese pessimistische Diagnose könnte in einen Zustand der Hoffnungslosigkeit führen. Gerade das Durchbrechen des Schweigens macht uns aber klar, daß sich das Einrichten in deutscher Ratlosigkeit und Gedankenlosigkeit viel zu lange als Stärke und Härte maskiert hat.

Eine "Vereinnahmung" von Menschen wie Martin Walser, Botho Strauß oder Bernd Rabehl – durch "rechts" oder "links" – muß mißlingen. Denn es geht hier nicht um politische Abweichung als solche, sondern um die pure Öffnung von bislang bestens verriegelten Türen und Fenstern, und um jenen frischen Luftzug, ohne den man erstickt.

Als der Dichter, Dramatiker und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini sich in einem berühmten Gedicht aus dem Jahre 1968 von den linksradikalen Studenten distanzierte und mit den diesen gegenüberstehenden Polizisten solidarisierte – weil diese ja im Gegensatz zu den Intellektuellen Söhne von Arbeitern und Bauern waren –, machte ihn das eben noch lange nicht zum "Rechtsintellektuellen". Und obwohl er die 68er Revolte als "Modernisierungsschub in Richtung Konsumgesellschaft" kritisierte, der vornationalen und frühindustriellen Welt nachtrauerte und nicht einmal davor zurückschreckte, Italien während des Faschismus als "wunderbares Land" zu bezeichnen, blieb er sein ganzes Leben inmitten des linken Diskurses.

Ob Paradigmenwechsel oder Grenzüberschreitungen – die Debatte über die deutsche Identität wird weitergehen. Denn nichts wird im Zeitalter des Fortschritts ernster genommen als die Auslotung des Randes der eigenen Existenz. Ob diese Haltung ausreicht, um die Kraft der Nation andauern zu lassen, wird abzuwarten sein.


 
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