© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52 u. 53/98  18. Dezember / 25. Dezember 1998

 
 
Karlsuniversität in Prag: Der blutige Streit um Gründungsrechte und Insignien
Akademisch-ethnische Säuberung
Christian Uebach

Nach der Proklamation der tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918 brachte am 11. Dezember desselben Jahres der Universitätsprofessor Mares im tschechischen Revolutionsparlament das sogenannte Universitätsgesetz ein. Das Gesetz, genannt "Lex Mares", sollte festlegen, daß Kaiser Karl IV. 1348 in Prag eine böhmische Landesuniversität geschaffen habe. Die Tatsache, daß der römisch-deutsche Kaiser die Hochschule als Reichsuniversität gegründet hatte, wurde per Dekret als Fälschung ausgelegt. Damit sollte die damals 570jährige deutsche Hochschulgeschichte in Prag ausgelöscht werden.

Karl IV. hatte vor 650 Jahren, am 7. April 1348, in seiner Heimatstadt Prag die erste Universität des Heiligen Römischen Reiches nördlich der Alpen gegründet. Das Land Böhmen war bereits seit dem 10. Jahrhundert Lehen des deutschen Königs und spätestens seit der Gründung des Bistums Prag als Teil des salischen Reichskirchensystems in Jahr 1973 fester Bestandteil des regnum teutonieum. Die Gründung einer Universität als Reichsinstitution in seiner Residenz Prag diente Karl IV zum Ausbau seiner luxemburgischen Hausmacht.

Anhand erhaltener Hörerlisten haben Historiker ermittelt, daß Mitte des 14. Jahrhunderts 3/4 der Prager Studenten Deutsche waren, jedoch nur 1/7 Tschechen. Schon früh war es zu Auseinandersetzungen zwischen tschechischen und deutschen Studenten gekommen. Von tschechischer Seite hatte es von Anfang an Anfeindungen gegenüber deutschen Kommilitonen gegeben. Mit der Gründung der Prager Neustadt 1348 und dem massiven Zuzug von tschechischer Landbevölkerung in die Stadt hatte das überwiegend wohlhabende und gebildete deutsche Bürgertum versucht, sich gesellschaftlich abzuheben. Diese Gegebenheiten hatten einen Dauerzwist unter der Prager Studentenschaft und der Bevölkerung nach sich gezogen, der sich bis zur Vertreibung der Sudetendeutschen ab 1945 erhalten sollte.

Übergriffe von Tschechen auf deutsche Studenten

Unter der tschechischen Bevölkerung Böhmens, die seit dem 30jährigen Krieg ein Heloten-Dasein gefristet hatte, entfaltete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein zunehmend deutschfeindlicher Chauvinismus, genauso unter der tschechischen Intelligenz. In diesem Zusammenhang steht zum Beispiel die Entstehung der panslawistisch ausgerichteten und paramilitärisch organisierten "Sokel"-Bewegung, deren erster Kongreß 1882 in Prag tagte. Seine Hauptstoßrichtung galt der Zerstörung der Donaumonarchie.

Diese Umstände wirkten sich auch auf das akademische Leben in Prag aus. Mitte des letzten Jahrhundert wurde an der Prager Karlsuniversität auch in der tschechischen Sprache unterrichtet, womit sich die tschechische Führungsschicht jedoch bald nicht mehr zufrieden gab. In ihren Reihen wurde verlangt, die als Reichsanstalt gegründete Karlsuniversität in eine tschechische Landesuniversität umzuwandeln. Dieser Anspruch rührte unter anderem daher, daß in der tschechischen Sprache die Begriffe "böhmisch" als auch "tschechisch" mit dem Wort "cesky" wiedergegeben werden. Es ergibt sich erst aus dem Kontext des Satzes, ob mit "cesky" böhmische, also deutsche und tschechische Belange in Böhmen gemeint sind oder nur tschechische. Ein böhmisches Institut kann, durch das Wort "cesky" wiedergegeben, als ein rein tschechisches verstanden werden. 1864 wurde von deutscher Seite vorgeschlagen, eine eigene tschechische Universität zu gründen, was die tschechischen Professoren jedoch ablehnten, da sie auf die Tradition der Karlsuniversität nicht verzichten wollten. So kam man im Wiener Parlament 1881 zu der Übereinkunft, die Universität in eine tschechische und eine deutsche Hochschule aufzuteilen, was 1882 vollzogen wurde. Beiden Universitäten wurden jedoch die alten kaiserlichen Insignien und Archivalien zugesprochen.

Durch die Teilung der Hochschule waren die Feindseligkeiten unter den Prager Studenten jedoch nicht beendet. Die bloße Existenz einer deutschen Hochschule auf Prager Boden wurde als nationale Herausforderung angesehen. Vor diesem Hintergrund war für viele deutsche Studenten der Zusammenschluß in nationalen Vereinigungen und Korporationen attraktiver denn je.

Im November 1897 nahm die Auseinandersetzung gewalttätige Formen großen Stils an. Als die Einführung eines neuen Rektors an der tschechischen Hochschule von einem Zug tschechischer Studenten begleitet wurde, der anschließend weiter deutschfeindliche Lieder singend durch die Straßen zog, kam es zu schweren Übergriffen auf einzelne Korporierte. Dies bildete den Auftakt zu zahlreichen Angriffen auf deutsche Prager. Während der mehrere Tage andauernden Unruhen wurden deutsche Studentenheime und das deutsche Theater gestürmt, deutsche und jüdische Geschäfte geplündert, Universitäteninstitute verwüstet und sogar Deutsche in ihren Wohnungen heimgesucht. Am 10. Januar 1908 mußte der Ausnahmezustand über die Stadt verhängt werden. Bis ins Jahr 1909 wiederholten sich regelmäßig Straßenschlachten zwischen Korporierten, die dann ihren Sonntags-Farbenbummel abhielten und tschechischen Studenten, die ihre deutschen Kommilitonen mit Knüppeln bewaffnet angegriffen.

Im Herbst 1918 forderten tschechische Politiker von der deutschen Hochschule die Herausgabe der Universitäts-Gründungsurkunde von 1348 an die tschechische Universität. Der damalige Rektor der deutschen Universität, Prof. Naegle, widersetzte sich diesen Forderungen jedoch energisch. Gegen die folgende militärische Besetzung der deutschen Universitätsgebäude protestierte Naegle persönlich vor dem tschechischen Ministerpräsidenten Kramär, wurde jedoch mit den Verweis auf das Recht des Stärkeren abgewiesen. Noch am 29. Oktober verabschiedete der Senat der deutschen Hochschule eine Erklärung, nach der ihr Lehrkörper weiterhin für deutsche Wissenschaft eintrete und am geistigen Zusammenhang der gesamten deutschen Volkes festhalte. Das wiederholte, energische Aufbegehren Naegles gegen Angriffe auf die Integrität der deutschen Universität brachte Milderung der zu jener Zeit an der Tagesordnung gewesenen Schikanen gegenüber der Lehranstalt.

Korporierte verteidigten die deutsche Universität

Nach dem Bekanntwerden des "Lex Mares", daß das Gründungsdatum der deutschen Hochschule auf das Jahr 1882 festlegte, der tschechischen Hochschule die Tradition der Karlsuniversität zuschrieb und die Übergabe der Gründungsinsignien von 1348 an die tschechische Hochschule verlangte, legte August Naegle dem Ministerpräsidenten eine Denkschrift des Senats der deutschen Hochschule vor. In dieser Schrift warnte der Senat davor, daß der Nationalrat über die Rechtsstellung der deutschen Universität befinde, bevor eine Friedenskonferenz über das Schicksal der Sudetendeutschen entschieden habe. Dennoch wurde das Universitätsgesetz beschlossen und trat am 19. Februar 1920 in Kraft. Zwei Tage später schrieb Naegle in einer Protesterklärung, daß der Akademische Senat "für die Rechte und Interessen des in der Nationalversammlung nicht vertretenen deutschen Volkes" eintrete und deutschfeindliche Vorstöße abzuwehren gedenke.

Tatsächlich wurde Naegle, der "Eiserne Rektor", zur Symbolgestalt für die Deutschen in Böhmen und Mähren. Im April 1920 wurde er als Vertreter der bürgerlichen Partei der Sudetendeutschen in den Senat der CSR gewählt. Hier prangerte er wiederholt das Unrecht an, das den Deutschen des Landes durch den Vertrag von St. Germain geschehen war.

Die nationalistischen Politiker der CSR, wie Staatspräsident Masaryk oder Edward Benes, wußten, daß August Naegle die Insignien der Karlsuniversität bis zum äußersten verteidigen würde. So verschoben sie stillschweigend den Vollzug des "Lex Mares". Vom Staatspräsidenten hatte Naegle noch im März 1920 gefordert, "soweit er sich innerhalb der chauvinistischen Tendenzen der Gesetzgebung dieses Staates Geltung verschaffen kann", die deutsche Universität zu schützen. Erst nach dem Tod Naegles im Oktober 1932 – den deutschen Studentenverbindungen war es behördlich verboten, ihm die letzte Ehre zu erweisen – setzte der Streit um die Insignien der Karlsuniversität wieder ein.

Der tschechische Rektor Domin, der eifrig Öl auf das Feuer des Insignienstreits gegossen hatte, erwirkte beim Unterrichtsministerium einen diesbezüglichen Erlaß. Am 21. November 1934 wurde der deutschen Universität unterbreitet, daß sie die Insignien an die tschechische Hochschule auszuliefern habe. Deren Senat entsandte jedoch eine Abordnung zum Unterrichtsminister, um zu protestieren. Die Nachricht davon wurde von der tschechischen Presse aufgegriffen und zur Revolte der deutschen Universität hochstilisiert.

Tschechische Studenten beschlossen nun, die Insignien mit Gewalt an sich zu reißen. Am Mittag des 24. November sammelten sich mehrere tausend Tschechen vor dem deutschen Universitätsgebäude. Rektor Domin hielt eine Ansprache, und auf seine Aufforderung hin setzte die Masse zum Sturm an. Das Gebäude war jedoch von Korporierten rechtzeitig besetzt worden, und diese konnten es erfolgreich verteidigen. Unter dem Eindruck dieser gewalttätigen Ausschreitungen, im Zuge derer auch unbeteiligte Deutsche bedroht und mißhandelt wurden, entschloß sich der deutzsche Rektor, Professor Grosser, am 25. November, die Insignien zu übergeben, und leitete sie noch am gleichen Tag an die tschechische Hochschule weiter. Grosser hatte später geschrieben: "Das neue Universitätsgesetz hat viel dazu beigetragen, (...) ein friedliches Zusammenleben der Nationen in dem neuen Staat" unmöglich zu machen.

Nach der Besetzung der Tschechei durch deutsche Truppen im März 1939 wurden am 30. August desselben Jahres die historischen Insignien der deutschen Hochschule durch einen Vertreter der Reichsprotektors zurückgegeben. Als Reaktion auf eine Demonstration tschechischer Studenten im November 1939 ließ Hitler neun angebliche Rädelsführer erschießen und alle tschechischen Hochschulen für vorerst drei Jahre schließen. Sie wurden jedoch bis zum Kriegsende nicht wieder geöffnet. Der Untergang des Deutschen Reiches 1945 bedeutete das unwiederbringliche Ende der ersten deutschen Universität des Heiligen Römischen Reiches.

Am 30. April hielt der Senat noch eine Sitzung ab, im Bewußtsein, daß es die letzte sein würde. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Prag fielen der Hatz auf die deutschen Prager allein 30 Professoren zum Opfer. Als im Jahre 1948 der 600. Jahrestag der Gründung der Prager Universität begangen wurde, verlautete eine Depesche aus Moskau, die slawische Welt sei stolz zu wissen, daß die älteste Universität Mitteleuropas eine slawische sei.


 
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