© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


20. Todestag Rudi Dutschkes: Gespräch mit Helmut Dutschke über seinen Bruder Rudi, die gemeinsame Kindheit und die Entstehung seines politischen Bewußtseins
"Die deutsche Einheit stand für ihn im Mittelpunkt"
Moritz Schwarz

Herr Dutschke, Sie sind mit Ihrem Bruder Rudi Dutschke zusammen aufgewachsen. Wie haben Sie und die anderen Geschwister als Kinder ihren kleinen Bruder Rudi erlebt? War das Verhältnis innig?

Dutschke: Wir waren vier Jungs zu Hause und haben in Luckenwalde gewohnt. Unsere Eltern sind Brandenburger gewesen. Der Vater war erst Zwölfender, also Berufssoldat, dann bei der Post. Als Rudi 1940 geboren wurde, war er bereits wieder eingezogen und im Krieg. So mußte uns unsere Mutter allein großziehen, denn der Vater kam erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft. Das war natürlich nicht so einfach. Rudi sollte ja nach drei Jungs eigentlich ein Mädchen werden, na ja, aber der Jüngste ist dann der Benjamin. In so einer Familie, da werden Aufgaben verteilt. Natürlich zu Lasten der Älteren. Aber Rudi war sehr diszipliniert und hat auch aus eignem Antrieb gearbeitet.

Wie sahen Sie und Rudi die Welt mit Kinderaugen, war es für sie eine unschuldige Welt, oder war das , etwa aufgrund des Krieges, eine grausame Welt?

Dutschke: Wir haben schon mitbekommen, daß es eine grausame Welt ist, haben das aber nicht so wahrgenommen. Denn unsere Kindheit war ja abgesichert. Wir waren in eine Großfamilie auf dem Dorf eingebettet. Es gab für uns keine Angst. Und dann war da natürlich die christliche Erziehung, die auch Halt und Geborgenheit gegeben hat und vor allen Dingen Hoffnung. Das war ganz wichtig, wir sind alle in den Kindergottesdienst gegangen und danach in die "Junge Gemeinde". So wuchsen wir in die evangelische Kirchengemeinde von Luckenwalde hinein.

Wer war denn da die "treibende Kraft", was die christliche Erziehung anging?

Dutschke: Das war unsere Mutter.

War der Vater einfach nicht da, oder war er nicht christlich gesonnen?

Dutschke: Er war nicht da und und hatte dazu auch eine andere Einstellung, von seinem Elternhaus her.

War denn die christliche Einstellung Ihrer Mutter nicht eine eher "volksfrömmige", also von einfacher Struktur? Inwiefern hat sich das dann einem intellektuellen Menschen wie Rudi Dutschke vermittelt?

Dutschke: Die intellektuelle Entwicklung kam ja erst später. Woher diese dann kam, haben wir uns auch immer gefragt. In der Familie gab es mal ein, zwei Generationen zurück Leute, die Lehrer waren. Aber sonst gab es keine solche "familiäre Vorbelastung".

Das Christliche überzeugte Rudi also, weil es zu Hause und in der Gemeinde von Liebe und Wahrhaftigkeit geprägt war?

Dutschke: Ja, zu Hause und in der Gemeinde. Unsere Mutter war nie diktatorisch und zwang uns nicht zum ständigen Besuch der Gemeinde. Wir gingen gerne hin. In der "Jungen Gemeinde" wurde diskutiert, und man machte Ausflüge. Und der Pfarrer damals besuchte die Gemeindemitglieder noch zu Hause! Das ist ja heute gar nicht mehr vorstellbar, nur noch Achtzigjährige werden heute besucht. Einmal in der Woche kam der Pastor vorbei, und man konnte mit ihm über viele Dinge reden, wo man sonst niemanden hatte.

Welche Werte vermittelte ihm die Mutter sonst noch?

Dutschke: Unsere Mutter hatte diese Wertvorstellungen, wie Familiensinn, Ordnungsliebe, Fleiß, Genügsamkeit und Einsatzbereitschaft. Und das hat Rudi dann von ihr mitgenommen. Übrigens, unter Druck ist er damals auch in die Tanzschule gegangen, weil die Mutter sagte, das müsse man wenigstens mit ins Leben nehmen, daß man tanzen könne. Durch die deutsche Teilung, die Rudi ja von uns trennte, weil er kurz vor dem 13. August nach West-Berlin gegangen war, nahm der Einfluß unserer Mutter auf ihn natürlich ab, denn beide konnten sich jetzt nicht mehr miteinander bereden. Wer weiß, was aus Rudi ohne die Teilung Deutschlands geworden wäre!

Vielleicht doch Sportjournalist?

Dutschke: Ja, das glaube ich schon. Unsere Mutter hat da doch sehr, sehr starken Einfluß gehabt.

Hatte Ihre Mutter eine politische Einstellung?

Dutschke: Gar keine.

Hat sie den Kindern auch kein grundsätzliches Gefühl für das Politische vermittelt?

Dutschke: Nein, da kam von zu Hause gar nichts. Wir hatten erst Probleme, weil wir keine Hakenkreuz-Fahne, dann weil wir keine rote Fahne rausgehängt haben. Völlig unpolitisch. Das was wir dann politisch erfahren haben, kam aus der Schule und aus der Kirche.

Welche Rolle hat überhaupt noch der Vater gespielt, der so spät aus dem Krieg heimkam?

Dutschke: Nur noch eine begleitende Rolle. Er hatte dann keinen großen Einfluß mehr auf die Erziehung, da waren die Grundlagen durch unsere Mutter gelegt. Rudi hat den Vater dann mehr nur noch als Freund gesehen. Bis zum Schluß war das eine ganz gute Freundschaft. Er hat auch in der Zeit der deutschen Teilung immer wieder versucht, ihn zu besuchen. Denn unsere Mutter ist ja schon 1967 an Lungenasthma gestorben.

Die erste Begegnung Rudis mit dem Vater war aber doch sehr disharmonisch. Der fremde Mann in der Wehrmachtsuniform machte ihm angst, und es gab großen Krach.

Dutschke: Ja, aber das war nur eine Episode und rasch vergessen. Es ist Krieg, der Vater kommt nur für kurz nach Hause, da ist doch so etwas nicht verwunderlich. Das spielte keine weitere Rolle.

Wie hat Rudi den Krieg erlebt?

Dutschke: Der Schrecken des Krieges wurde uns damals schon bewußt. Zum Beispiel, als der Onkel an der Ostfront fiel. Sein Panzer wurde von den Russen abgeschossen. Und die Mutter und die Tante saßen weinend zu Hause. Wir haben das schon mitgekriegt und auch den Haß auf den Krieg, der so vielen so viel Elend gebracht hat.

Welche Rolle spielte der Sport? Rudi war ja ein begeisterter Leichtathlet, rang und belegte bei DDR-weiten Wettkämpfen sehr hohe Plätze.

Dutschke: Ja, er war ein fanatischer Sportler. In der kleinen Sportgemeinschaft in Luckenwalde trieb er vor allem Hochsprung, Stabhochsprung, Weitsprung und Kugelstoßen, das waren so seine Disziplinen. Er hatte ja auch kein Mädchen in Luckenwalde, in seiner Jugendzeit, die Freundin war der Sport.

Was bedeutete diese Konzentration auf den Sport? Hat er dort Gemeinschaft gesucht?

Dutschke: Nein, Rudi war eher Einzelgänger. Zwar hat er auch als Trainer gearbeitet, aber das war wohl eine Art Selbstdarstellung. Mit seinem Sportlehrer habe ich danach noch einmal gesprochen, der sagte mir, Rudi habe bei ihm immer schon die halbe Sportstunde geschmissen. Da hat er schon so Ansätze seiner Führerpersöhnlichkeit gezeigt, das war da schon erkennbar. Ringen war ihm bald zu gefährlich, nachdem er einmal beinahe ein halbes Ohr verloren hätte. Mannschaftssportarten hat er eher weniger betrieben.

Suchte er als geistiger Mensch dort vielleicht ein Körpergefühl oder gar ein Einfügen in die Natur?

Dutschke: Ich glaube, mit ein Grund war, daß das damals bei uns in Luckenwalde das einzige war, wo man sich so ein bißchen selbst verwirklichen konnte. Mehr sehe ich darin heute nicht.

Dutschke hat sich geweigert, seinen "freiwilligen" Dienst bei der "kasernierten Volkspolizei", dem Vorläufer der NVA, zu leisten. Warum?

Dutschke: Er lehnte die Möglichkeit, daß Deutsche auf Deutsche schießen müßten, strikt ab.

War diese nationalpazifistische Einstellung auch seine innere Überzeugung?

Dutschke: Ja! Und so hatte er es ja auch in der Schule gelernt.

Der Krieg war also eine Größe, die ihn, über die Schule, vorpolitisiert hat?

Dutschke: Ja. In der Schule hat er gelernt, was aus diesem Krieg alles entstanden ist: Die Zerstörung, die Not und die Teilung Deutschlands.

Inwiefern war die Teilung Deutschlands denn für ihn ein Unglück? Vielen anderen war das ja bald kein Wert, kein Unglück mehr?

Dutschke: Wenn Sie in der Schule lernen, daß vorrangig die Wiedervereinigung Deutschlands steht und alle sich dafür einsetzten müssen, und es nachher nur Schall und Rauch ist, weil manche nur ihre Macht erhalten wollen und sich aus dieser Verantwortung herausstehlen, dann ist das unlauter. Ich glaube, daß sich die Einheit Deutschlands bei Rudi in der Schule innerlich festgesetzt hatte: Weiterhin zu kämpfen für die Wiedervereinigung. Aber natürlich im sozialistischen Sinne.

Was verstand er denn unter dieser Einheit, denn es war ja offenbar für ihn nicht etwas in dem Sinne Politisches, sondern etwas Organisches, etwas Ursprüngliches?

Dutschke: Es war ihm einer der in der Schule gelernten Grundwerte. Er war innerlich damit einverstanden und hoffte, die Welt werde sich auf diesem Weg verändern. Diese Teilung war ihm etwas Unnatürliches, er kannte ja das eine, gemeinsame Deutschland noch, und nicht zuletzt war es gleichzusetzten mit seiner Trennung von der Familie. Der Trennung vieler deutscher Familien, es war die Trennung der Deutschen überhaupt. Er glaubte auch immer, das ganze werde nicht lange dauern.

Ist also diese zu Hause und in der Schule gelernte Einheit für ihn eine Form von Heimat gewesen?

Dutschke: Ja, ich sehe das so.

Woher kam sein Gefühl für Heimat? Aus der positiven Kindheit in Luckenwalde?

Dutschke: Das glaube ich schon. Man sagt nicht umsonst, Heimat ist da, wo Mutter und Vater beerdigt sind, wo die Familie beerdigt ist. Und darüber hat er wahrscheinlich so etwas gefunden. Rudi war im Prinzip ein typischer Brandenburger, ein richtiger Märker. Er ist natürlich auch im Grunde genommen ein Nachfahre von Heinrich von Kleist und Theodor Fontane, auch wenn das manche nicht hören wollen. Fontane hat nicht umsonst geschrieben: "Wer mit neunzehn kein Revolutionär ist, der hat kein Herz, wer es mit vierzig noch ist, der hat keinen Verstand."

War also sein Gefühl für Deutschland eine Erweiterung seines Gefühls für Luckenwalde? Aus seinem glücklichen, "sozialistischen" Luckenwalde extrapolierte er ein glückliches Deutschland?

Dutschke: Ja. Rudi war harmoniesüchtig. Übrigens haben er und andere 1961 bewußt mit Flugblättern gegen die Mauer gekämpft. Was beide Seiten nicht wollten, der Osten und der Westen, weil sie sich damit schon abgefunden hatten. Die Studenten haben sich dagegen aufgelehnt. Ohne Erfolg.

Nach dem Krieg war also die deutsche Einheit die zweite Größe, die Rudi Dutschke politisierte?

Dutschke: Ja, vom Grundsatz her, aber richtig los ging das erst nach dem Mauerbau. Als er dann in West-Berlin Leute kennenlernte, wie den Bernd Rabehl und andere, die sich politisch austauschten und zu dem Punkt kamen, man müsse etwas tun, damit hier wieder etwas in Bewegung kommt. In Richtung Wiedervereinigung, die stand ja mit im Mittelpunkt. War Rudi denn überhaupt ein Achtundsechziger? Genauso, könnte man sagen, er war ein Einundsechziger!

Er hat bis zum Schluß an der deutschen Einheit festgehalten, aber er hat dieses Empfinden nie weiter ins Politische gegewendet.

Dutschke: Es war immer noch diese Sehnsucht, in Deutschland normale Verhältnisse zu schaffen, das Nationale zum Abschluß zu bringen. Ein geeintes Deutschland war ihm Voraussetzung für die weitere internationale Arbeit.

Hat er Deutschland, was die nationale Frage angeht, in den falschen Händen gesehen?

Dutschke: Ganz genau. Und zwar auf beiden Seiten.

War er dann vielleicht nationaler als die, die ihn einen "vaterlandslosen Gesellen" genannt haben?

Dutschke: Das würde ich nicht sagen. Allerdings, zwar waren ihm auch andere Orte Heimat, wie etwa dann Dänemark, aber er hat sich immer wieder nach Deutschland zurückgesehnt. Es war die Liebe zur Heimat und ganz Deutschland.

Die Einheit seines Vaterlandes war ihm also Voraussetzung. Sein Ziel aber war die Revolution. Was wollte Rudi Dutschke?

Dutschke: Die Menschen zusammenführen. Es war ein christlicher Sozialismus, das möchte ich ganz deutlich betonen, ein christlicher, den er anstrebte. Bei einer Diskussion mit Rudolf Augstein wurde er einmal gefragt: "Wie soll denn diese Zukunft aussehen?" Er antwortete: "Ich kann’s noch nicht sagen, weil die Menschen da mitmachen müssen."

Wie ist sein Christentum zu verstehen: War ihm Jesus Christus tatsächlich der Heiland und Erlöser, oder nur der größte aller Revolutionäre und sein Glaube also nichts weiter als die Apotheose der Revolution?

Dutschke: Nein, das war echt. Allerdings hat er ja damals seine Doktorarbeit geschrieben: "Lenin auf die Füße stellen". So hat er, glaube ich, auch versucht, Jesus Christus vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Jesus Christus predigte die Liebe, die Revolution traditionell den Haß.

Dutschke: Haß spielt bei Rudi keine Rolle. Er war, wie ich sagte, harmoniesüchtig. Er hat immer versucht, alle wieder an einen Tisch zu bringen, und das ist ihm oft auch gelungen. Das hat er übrigens von der Mutter. Er konnte gar nicht hassen. Wenn man sich die Briefe an seinen Attentäter ansieht, da war kein Haß drin. Er hat immer das Gute im Menschen gesehen. Auf Angriffe hat er mit Gesprächsversuchen reagiert, eine Art Aufklärung. Das steht sogar in den Berichten der Stasi über ihn. Er hat stets versucht, mit jedem in Kontakt zu kommen.

Wenn er persönlich so friedlich gesonnen war, wie war das in der Politik? Denn er hat sich ja für die Revolution ausgesprochen, und linke Revolutionen folgen ja dem Muster: Mit der Waffe in der Hand, Gewalt gegen den Unterdrücker.

Dutschke: Die Gewalt hat er nicht im Vordergrund gesehen, sondern die Aufklärung. Er hat mal geschrieben: "Sich selbst zu verändern, glaubwürdig zu werden, Menschen zu überzeugen und den verschiedenen Formen von Ausbeutung und Terror entgegenzuwirken, das mag in manchen Augenblicken ungeheuer schwer erscheinen, und dennoch gibt es keine Alternative."

Aber seine Revolutionsvorstellungen waren dennoch nie ganz gewaltlos.

Dutschke: Ich würde heute sagen, sie haben erprobt, mit anderen Formen von Gewalt umzugehen. Und dabei ist es hier und da natürlich zu Dingen gekommen, die völlig zu mißbilligen sind. Aber wer hat denn mit der Gewalt angefangen? Wer hat denn Benno Ohnesorg umgebracht?

Die Gewaltfrage erscheint jetzt doch etwas harmlos! Es gab mörderische Slogans wie "Macht kaputt, was Euch kaputt macht", später übelste Hetze etwa gegen "Bullenschweine".

Dutschke: Er hat darüber diskutiert, aber er hat so etwas nie vertreten!

Das heißt, er war untypisch für die Bewegung, die er anführte?

Dutschke: Ja, sicher. Und ich möchte noch etwas anmerken: Bei Rudi war immer eine Übereinstimmung von Denken und Tun. Äußerlichkeiten – weil viele immer mit mir diskutiert haben, wegen der langen Haare – spielten für ihn keine Rolle. Aus der Bescheidenheit seiner Kindheit. Kleidung, Besitz, Konsum waren für ihn kein Thema. Peter Brandt hat einmal geschrieben: "Wie faszinierend und fruchtbar Dutschkes Denken auch war, am meisten hat mich stets sein Charakter beeindruckt, seine Unbestechlichkeit, seine Aufrichtigkeit, seine persönliche Bescheidenheit und vor allem seine Sanftmut waren unübertrefflich. Jeder spürte, daß Denken und Handeln, privates wie politisches Verhalten, bei diesem Menschen eine Einheit bildeten."

Warum zog er dann den Haß auf sich?

Dutschke: Ja, das ist tragisch. Bischof Scharf hat einmal geschrieben, leider erst nach dem Attentat: "Mord beginnt beim bösen Wort über den Mitmenschen, nicht der erst ist ein Mörder, der einen anderen totschlägt, sondern schon der, der ihn einen einen gefährlichen wertlosen Lumpen nennt, einen Zerstörer der gesellschaftlichen Ordnung, oder auch einen gottlosen, bösen Tyrannen." Man muß Feindbilder abbauen, das ist das Problem.

Welchen Einfluß hatte Bernd Rabehl auf Rudi Dutschke?

Dutschke: Einfluß? Nun, sie waren zeitweilig gute Freunde. Dann gab es auch Auseinandersetzungen, die sie etwas auseinandergebracht haben. Denn Bernd Rabehl war ein bißchen ein Zyniker. Und dann spielte natürlich eine Rolle, daß Rudi geheiratet hat. Ich denke mir heute, das war ein Fehler. Wer Revolution machen will, darf keine Familie haben. Heute sind drei Kinder ohne Vater.

Halten Sie für berechtigt, was Rabehl heute sagt?

Dutschke: Ja, ich halte die Aussagen eines Querdenkers für Denkanstöße. Die Achtundsechziger haben keine Lösungen vorgegeben. Sie haben versucht, die Leute ins Gespräch zu bringen und gefragt, wie können wir etwas verändern. Das gleiche macht Rabehl heute, und zwar wieder als Provokateur. Und wir müssen lernen, mit Provokation konstruktiv umzugehen. Das ist das, was die meisten nicht können! "Eine deutsche Misere ist immer noch eine linke Misere", wie mein Bruder einmal schrieb.

Sind die Achtundsechziger nicht gescheitert, wie Rabehl sagt? Statt qualitativer Freiheit haben sie nur ein Mehr an quantitativer Freiheit, und das zu Lasten ersterer, erreicht?

Dutschke: Ja. Aber dafür war einfach die Zeit zu knapp. Trotzdem ist viel in Bewegung gekommen.

Ist denn der Mensch Rudi Dutschke vom Revolutionär Rudi Dutschke zu trennen?

Dutschke: Zu DDR-Zeiten war der Revolutionär noch nicht erkennbar. Mit der Trennung der Familie und dem Bau der Mauer ist er in eine ganz andere Welt gekommen und hat sich dann weiterentwickelt. Hat die Familie nur noch im Wort der Bibel gesehen. Alle Menschen, die zu uns gehören, sind Familie, hat uns dann nicht mehr so im Vordergrund gesehen.

Er hat den Begriff inflationär ausgeweitet?

Dutschke: Ja.

Haben Rudi und die Achtundsechziger nicht viele Fehler solcher Art gemacht?

Dutschke: Rudi hat immer an seiner Grundidee festgehalten. Aber er hat natürlich später, auch nach dem Attentat, vieles anders gesehen. Ich denke, ein Fehler war wohl auch, daß man damals die deutsche Geschichte nicht wirklich rückwirkend aufgearbeitet hat.

Können Sie Sich vorstellen, daß Dutschke von seinem unbändigen Sehnen nach einer besseren Gemeinschaft heute abgekommen wäre, um sich in die Realität zu fügen?

Dutschke: Nein, ich glaube er hätte neue Ansatzpunkte in unserer Neuvereinigung – Neuvereinigung muß man ja sagen, statt Wiedervereinigung – gesehen.

Er hätte sich also konstruktiv in den Prozeß der Wiedervereinigung eingemischt?

Dutschke: Ja. Wir hatten doch so viele Möglichkeiten, die nicht genutzt worden sind

Hat für Sie also 1989 kein nationaler Aufbruch stattgefunden?

Dutschke: Keine Erneuerung, nein.

 

Helmut Dutschke 1936 in Koblenz am Rhein geboren, aufgewachsen im brandenburgischen Luckenwalde, arbeitete von 1964 bis zu seinem vorzeitigen Ruhestand 1992 als Elektroingenieur im "Gerät Reglerwerk Teltow".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen