© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/00 24. Dezember / 31. Dezember 1999


CD: Pop
Überflieger
Peter Boßdorf

Niemand zählt die Generationen, die mit David Bowie groß geworden sind. Die ganz Alten verbinden ihn mit Zeiten, die sie als wilde in Erinnerung haben. Damals, so berichten sie, sei er geschminkt gewesen und habe Frauenkleider angehabt. Dann hätte er, wie alle, die irgendwann einmal etwas auf sich hielten, im freien Berlin einige Nächte durchgemacht. Dort besang er Helden, die sich später als Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher herausgestellt haben sollen. An Iggy Pop habe er beobachten können, wie unerfreulich Drogen sind. Wer die Kinder vom Bahnhof Zoo, denen er seine Stimme lieh, im Kino sah, konnte dieses Verdikt nicht zwingend nachvollziehen.

David Bowie ist sicher schon ein Vierteljahrhundert nicht mehr übers Ziel hinausgeschossen. Die Empörung über ihn hat jene über Drafi Deutscher nie übertrumpfen können. Er wuchs in seine Rolle hinein, einer vernunftorientierten und anfänglich vielleicht sogar jugendlichen Intelligenz eine Perspektive in der Popkultur zu bieten. Von dieser Geschäftsidee bis zum Börsengang ist der Weg eigentlich nicht so weit, wie er auf der Zeitachse erscheinen mag. David Bowie konnte sich seinen Status verdienen, ohne vieles anders machen zu müssen. Seine Backlist geizt nicht einmal mit abstrusestem Kitsch – das obligatorische Weihnachtslied im Verein mit Bing Crosby eingeschlossen.

In den letzten Jahren war David Bowie eher durch die Bewunderung, die Tony Blair seiner Frau zollte, denn durch professionelle Erfolge im Gespräch. Daraus mußte man den Schluß ziehen, daß er sich wohl in einer Experimentalphase befand. Das Neuland, das er durch sie gewann, ist die Rekonstruktion des eigenen musikalischen Herkommens. "Hours" (Virgin) klingt wie der Versuch eines in die Jahre gekommenen Mannes, Stimmungslagen der Vergangenheit noch einmal ohne große Umwege heraufzubeschwören. David Bowie ist dabei Profi genug, um nicht vortäuschen zu wollen, daß er in einen Jungbrunnen gefallen wäre. Er schafft es allerdings mühelos, sich um etwa eineinhalb Jahrzehnte zurückzuentwickeln: So in etwa hätte der Bowie von "Let’s Dance" klingen können, wenn es ihm damals in den Sinn gekommen wäre, ein bißchen mehr auf alten Spuren zu bleiben. Seine Hörer der ersten Stunde danken ihm die Chance, ihn guten Gewissens mit in den Ruhestand nehmen zu können.

Die nachwachsende Intelligenz hingegen muß noch nicht um die Unvergänglichkeit ihrer Musik bangen. Sie kann sich in ihrem philosophischen Ringen ganz auf das konzentrieren, was gesagt wird. Die Firma kann dabei unter den deutschen HipHop-Vereinigungen mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit als jene mit dem größten Themenrepertoire angesprochen werden. Diese Ausnahmestellung rührt aus dem kühnen Experiment, als Lebenswirklichkeit ausnahmsweise einmal nicht nur das zu begreifen, was das Nächstliegende ist. "Wenn ich meine Augen schließe, kommen mir die besten Ideen": Das ist auf der CD "Das 2. Kapitel" (V2 Records) offenbar das Programm gewesen und hat selbst davor nicht zurückschrecken lassen, einen Ruckzugstreifzug durch 2000 Jahre mysteriöser Religionsgeschichte zu unternehmen. Die Freude an Sprachbildern christlichen Ursprungs füllt die Brust mit Pathos bis zum Abheben. Dort, wo der Überflug gelingt, sehen die konkurrierenden Mensafetenstimmungskanonen pop-pop-poluären Zuschnitts wie Zwerge aus.


 
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