© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
Jahrtausendwende: Die Deutschen stehen nach einem wechselvollen Jahrhundert vor neuen Chancen
Aufbruch in eine gute Zukunft
Oliver Geldszus

Der letzte, nach Papst Silvester I. benannte Tag im Jahr ist immer wieder aufs Neue Anlaß für melancholische Jahresrückblicke und kollektive Rauschzustände. Erhitzt und mit einem Glas Sekt in der Hand wird dann Besserung gelobt und der Blick nach vorn gerichtet.

Im kommenden Jahr allerdings wird der Blick vermutlich häufig rückwärtsgewandt sein, was tendenziell nichts Schlechtes ist. Denn mit dem Jahr 1999 klingt das 20. Jahrhundert aus, auch wenn es korrekt eigentlich bis zum 31 Dezember 2000 andauern wird.

Es war kein allzu großes Jahrhundert, auch wenn es mit hohen Ansprüchen gestartet war. Es war das Säkulum, in dem Masse und Medien aufstiegen und bis heute den Charakter unserer Zeit bestimmen. Und es war das Jahrhundert, das ganz im Zeichen der neuen Weltmacht USA stand. Besonders die Deutschen erlebten das Auf und Ab der Weltgeschichte mit zuweilen beängstigender Geschwindigkeit und häufig innerhalb nur einer Generation. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts war das gerade verspätet gegründete Deutsche Kaiserreich dabei, das an Kolonien reiche British Empire an industrieller Kapazität zu überholen, und nur die Vereinigten Staaten waren in der Industrieproduktion noch unheilbar vorn. Aber Amerika lag damals im europäischen politischen Bewußtsein am Rande des Weltgeschehens und war daher nicht von großer Bedeutung. Es hatte somit eine gewisse Logik für sich, daß nicht nur verschrobene Alldeutsche und Ultranationale in den Deutschen die künftig führende Weltmacht sahen.

Es kam bekanntlich ganz anders. Derartige Ideen und Träume verkamen und verbluteten in den Stahlgewittern und Stellungskriegen des ersten Weltkrieges. Der zweite Weltkrieg war nur die Folge der deutschen Niederlage und Demütigung von Versailles und führte in ein ungleich größeres Desaster. Das Finis Germaniae von 1945 war das korrekte und zugleich perfekte Gegenbild zur siegesgewissen Laune im Kaiserreich um 1900.

Unmittelbar nach dem Weltkrieg in die antagonistischen Systeme des Kalten Krieges gezwängt, brach sich die Bewältigung dieses Kollaps erst eine Generation später Bahn. Dieses Ereignis ist nach wie vor am prägnantesten mit der schlichten Zahlenkombination 68 zu bezeichnen. Die Impotenz dieser gegen die Vätergeneration gerichteten Jugendrevolte liegt vor allem darin, nichts genuin Neues geschaffen zu haben, sondern lediglich die Amerikanisierung der Gesellschaft und somit den endgültigen Anschluß an die westliche Wertewelt. Doch damit war nur einer Hälfte des in jedem Fall vielschichtigen und vereinzelt auch dämonischen deutschen Wesens gedient.

Entsprechend die Irritationen, als Deutschland nach dem Ende der Nachkriegszeit 1989 zur Wiedervereinigung und somit zu sich selbst gelangte. Die vielfach von dienstbeflissener Seite den Deutschen angedichtete Unruhe und Machtlüsternheit wird gar nicht so sehr von ausländischer Seite reflexhaft zu bedenken gegeben, sondern kommt eher von den einstigen Protagonisten der 68er, die sich nicht zu Unrecht um ihr Erbe betrogen sehen. Denn ihre Republik gibt es bereits jetzt nicht mehr. Was insofern viel heißen mag, da Deutschland derzeit noch völlig konfus und in jedem Fall unter seinen Möglichkeiten agiert. Das Neue zeichnet sich dennoch schon ab. Da Westdeutschland nur ökonomisch, aber nicht kulturell und pädagogisch auf die Wiedervereinigung vorbereitet war, gibt es nach wie vor Identifikationsprobleme, die lähmend und kontraproduktiv wirken.

1999 jähren sich Ende der DDR und Fall der Mauer zum zehnten Mal. Erwartungsgemäß werden im Herbst die Repräsentanten der Bundestagsparteien zu Elogen und Hymnen auf das tapfere Volk ansetzen. Gleichwohl haben sie dessen Botschaft und die Zeichen der Zeit noch lange nicht begriffen. Dennoch wird auch im kommenden Jahr zu beobachten sein, wie die Fronten bröckeln, die Tabus fallen und Normalität Einzug hält. Ironischerweise stellt gerade die neue rot-grüne Bundesregierung in vielerlei Hinsicht eine größere Normalität und Unbekümmertheit zur Schau als die oft verspannt und unsicher wirkende konservativ-liberale Koalition. Die Entwicklung in Deutschland in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht ist noch völlig offen und im positiven Sinn unkalkulierbar. Nach dem – auch notwendigen – Dornröschenschlaf im Kalten Krieg kann Deutschland nunmehr zu sich selber finden. Ein spannender Prozeß. Wahrscheinlich ist die ewig verspätete Nation auch diesmal wieder wie vor hundert Jahren auf einem großen Weg. Wie man Chancen fast bis zur Selbstvernichtung vergibt, hat das letzte Jahrhundert gezeigt.


 
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