© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    01/99  01. Januar 1999

 
 
Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?
Bilanz einer blutigen Utopie
Georg Willig

Den bisher radikalsten Versuch, den lebendigen Zusammenhang einer Gesellschaft in toto zu "säubern" und "neu zu erschaffen", und wie dieser Versuch zutiefst gescheitert ist und scheitern mußte, beschreibt Gerd Koenen beklemmend und erhellend in seinem neuen Buch über den Sowjetkommunismus.

Koenen setzt damit die Reihe der hervorragenden Werke über Ideologie, Illusion und Wirklichkeit des Kommunismus fort, die vor allem durch die Bücher von Michael S. Voslensky, Ernst Nolte, François Furet und das "Schwarzbuch des Kommunismus" von Stephan Courtois gekennzeichnet werden kann. Letzterem Buch verdankt Koenen auch den Anstoß zu seiner neuen Arbeit über dieses große Thema, zu dem er bereits seit 1985 eine imponierende Anzahl kenntnisreicher Bücher vorgelegt hat.

Auf den sonst üblichen Apparat von Anmerkungen verzichtet Koenen in "Utopie und Säuberung", da es ihm darauf ankommt, "statt der toten Texte von lebendigen Menschen zu sprechen, von dem, was sie angetrieben und bewegt hat". So ist ein Buch von klarer und lebendiger Diktion entstanden, sowohl in der detaillierten Darstellung des historischen Verlaufs von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Zusammenbruch des Systems mit dem gescheiterten Aufstand im August 1991, als auch den Analysen der ideologischen Probleme und der unterschiedlichen Interpretationen der Ziele der an diesen Auseinandersetzungen beteiligten Kräfte.

Koenens These ist, daß es sich bei den kommunistischen Revolutionen und Staatsgründungen "um modern-archaische Reaktionen auf jene enormen Schübe der Globalisierung, Pluralisierung, Individualisierung des Lebens handelt, die die eigentliche Revolution des Jahrhunderts ausgemacht haben", um "der westlichen Dominanz Paroli zu bieten, und zwar mit einem grundlegend anders verfaßten, supranationalem Gegenkomplex, der durch diktatorische Machtkonzentration, politische Massenmobilisation, gelenkte Produktion und umfassende Militarisierung gekennzeichnet war – eine ‘neue Welt’, die der ‘alten’ in der Tat antagonistisch gegenüberstand. Was zählt, ist die Erfahrung des totalitären Zugriffs auf eine Gesellschaft im ganzen." Statt eines globalen Kampfes supranationaler Weltanschauungen sieht er Machtkomplexe und ihre Ambitionen und zitiert Arthut Koestler zustimmend, der 1944 nüchtern feststellte: "Wenn sämtliche politischen ‘Ismen’ nicht existiert hätten, wären die Gruppierungen der kämpfenden Mächte dennoch dieselben gewesen." Die theoretischen Texte des Marxismus, schreibt Koenen in diesem Sinne, "waren als Handlungsanweisungen für das politische Geschehen etwa so belangvoll wie die theologischen Schriften des Mittelalters für die Kolonisierung Amerikas."

In dem Kapitel, das sich mit dem Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus auseinandersetzt, spricht er von "zweierlei Singularität", von zwei Extremen der Geschichte dieses Jahrhunderts. Dabei hält er auch nicht mit seiner Überzeugung zurück: "Wer die Vernichtung einer bestimmten Kategorie von Menschen – etwa der ‘Kulaken’ oder anderer ‘Volksfeinde’ der Sowjetunion – für historisch verständlicher oder sogar begründeter erklären wollte als einer anderen Kategorie von Menschen – etwa der europäischen Juden –, landet bei einer ziemlich zynischen Argumentationsweise." Wie zutreffend und gleichzeitig auch bedrückend die Feststellung Koenens ist, daß die westlichen Regierungen so wenig wie die erfahrendsten Sowjetologen den jähen Zusammenbruch der Staaten des "realen Sozialismus" auf ihrer Rechnung hatten, so sollte doch nicht vergessen werden, daß es scharfsichtige Analysen gab, die das voraussahen: Andrej Amalrik fragte 1969 "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?", und Emanuel Todd veröffentlichte 1976 "Vor dem Sturz – Das Ende der Sowjetherrschaft". Beide hat Koenen übersehen, wie man das übrigens damals auch tat.

 

Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 452 Seiten, 44 Mark


 
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