© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/99 08. Januar 1999


Ein Jahr des Umbruchs: Von Bonn nach Berlin nach Brüssel
Die Euro-Republik
Dieter Stein

Das Jahr 1999 wird das Jahr des Abschieds vom 20. Jahrhundert. Mündete die letzte Jahrhundertwende im Rausch der Industrialisierung und des Nationalismus in den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, so erleben wir zum "Millennium", dem Jahrtausendwechsel, weltweit unter dem Zeichen der Globalisierung die Zurückdrängung, Marginalisierung des Nationalen, des Partikularen zugunsten größerer Einheiten. Kontinentale Währungsräume entstehen – wie durch den Euro – und erzwingen riesige politische Einheiten. Diese Riesen-Staaten umhegen Wohlstandsinseln in einem wachsenden Meer des Elends der Dritten Welt. Im Rahmen der Globalisierung werden Regionen, die abseits der prosperierenden Zentren liegen, wirtschaftlich abgekoppelt. Innerhalb der Ersten Welt entstehen schon jetzt (Beispiel USA) Reichenghettos, in denen sich die Menschen, die auf der wirtschaftlichen Sonnenseite leben, durch private Sicherheitsdienste schützen lassen.

Wachsender Einwanderungsdruck aus den Armutsregionen der Welt und der Geburtenschwund in den Industriestaaten sorgen innerhalb des kommenden 21. Jahrhunderts für ein ethnisches Umkippen der traditionellen Wohnbevölkerung in Europa und den USA. An die Stelle weitgehend homogener Staatsvölker treten fragmentierte multiethnische Gesellschaften. Religion und Kultur werden von einem hochgerüsteten Polizeistaat und dem Marketing der Konsumindustrie als Stifter eines neuen Zusammengehörigkeitsgefühls endgültig beerbt.

1999 feiert die Bundesrepublik Deutschland ihren 50. Geburtstag. Das Jahr symbolisiert einen definitiven Abschied von der alten, westdeutschen, der Bonner Republik. Bundesregierung und Bundestag ziehen in diesem Jahr nach Berlin. Seitdem dieser Umzug beschlossene Sache ist, geistert der schillernde Begriff der "Berliner Republik" durch die Diskussion. Nachdem Gerhard Schröder Helmut Kohl als Bundeskanzler abgelöst hat, besetzen die Sozialdemokraten und die ihr wohlgesonnenen Zeitungen diesen Begriff für die "neue Mitte".

1999 ist auch das Jahr in dem sich der Zusammenbruch des Ostblocks, die Öffnung der Berliner Mauer zum zehnten Mal jährt. Auf 1989 ist das späte Frühlingserwachen des vierzig Jahre gespaltenen Deutschland datiert. Wir haben uns bereits daran gewöhnt, daß unser Land nicht mehr zerrissen ist. Doch die deutsche Einheit mündete nicht in eine reformatorische Neubelebung der Nationalstaaten, sondern war Beschleuniger des europäischen Fusionsprozesses, der maßgeblich unter ökonomischen Gesichtspunkten betrieben wurde.

Im ersten Halbjahr obliegt der Bundesregierung die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Der Start des Euro steht unter deutschen Vorzeichen. Es ist fraglich, ob der Regierung Schröder der Drahtseilakt gelingt, einerseits die Nettozahlungen an die EU zu kürzen, andererseits gekonnt den europäischen Vorreiter zu spielen.

Das Jahr 1999 wird das Jahr des Euro. Gegen alle nationalen Widerstände wurde diese riskante Operation durchgedrückt, die die Axt an die Nationalstaaten und ihre Solidarsysteme legt. Die erzeugte Euphorie scheint Skepsis und Sorge derzeit zurückweichen zu lassen – die Realität wird uns aber schon in den nächsten Monaten begegnen.

Die Unionsparteien werden in einem Wahlmarathon sondergleichen (Europawahl, sechs Landtagswahlen, sieben Kommunalwahlen) versuchen, ihre Stellung gegenüber Rot-Grün auszubauen. Außenpolitisch gibt es keinen nennenswerten Unterschied zwischen Regierung und Opposition. Hier entscheiden die innenpolitischen Themen. Angesichts der zunehmend nach Brüssel verlagerten Kompetenzen fällt der Europapartei CDU der unangenehme Schwarze Peter zu, Partei des deutschen Regionalismus zu werden. So wetzen die Stammesfürsten Biedenkopf (Sachsen) und Stoiber (Bayern) die Messer und fahren ihre schweren Geschütze gegen die Zentralen in Berlin und Brüssel auf. Ob die von der Union angekündigte Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu einem Erfolg führt, ist fraglich. Sicher zeigt dies, daß die Opposition gezwungen ist, Interessen empörter Bürger stärker zu artikulieren, dem "Volk aufs Maul zu schauen". Die Front gegen die doppelte Staatsbürgerschaft könnte aber auch zu einer Zerreißprobe für die Union werden: Immerhin hat ein namhafter Teil der Unionsfraktion eine solche Regelung noch vor einiger Zeit befürwortet. In jedem Fall ist die Union nun gezwungen, sich den Themen zu stellen, die sie als Regierungspartei stets aus den Wahlkämpfen heraushalten wollte.


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