© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/99 08. Januar 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Karriere dritter Wahl
Karl Heinzen

Neue Wege gehen, auf die eigene Kreativität setzen, den Menschen durch das eigene Beispiel Mut in ihrer Ratlosigkeit geben: Wolfgang Triebe gehört zu den wenigen in diesem Land, an denen jene Brandreden nicht spurlos vorbeigegangen sind, die Roman Herzog im Vorwahlkampf an uns alle richtete, um uns aus Lethargie und Erstarrung aufzurütteln. Die allermeisten glaubten, mit der Wahl einer neuen Regierung sei bereits getan, was zu tun ist. Wolfgang Triebe aber ahnte, daß dies nur ein neuerlicher untauglicher Versuch sein könnte, die Verantwortung von den Einzelnen auf das Gemeinwesen zu verlagern, und handelte. Anstatt aus der gesicherten Position eines evangelischen Pfarrers heraus die Zeitläufte schönzureden, wollte er gestaltend eingreifen und kandidierte in Arzberg/Sachsen für das Amt des Bürgermeisters. Sein moderner Wahlkampf, der die politische Rede und den Nackttanz zu einer neuen Form der Kundgebung verschmolz, war zwar insofern erfolgreich, als er große Aufmerksamkeit erzielte, doch konnte er in einem latent prüden Klima nur ein unbeabsichtigtes Echo finden: Wolfgang Triebe wurde nicht gewählt, dafür endeten seine Ehen und sein Beschäftigungsverhältnis. Weit davon entfernt, am ersten Rückschlag zu verzweifeln, machte er sich selbständig und gründete eine Striptease-Agentur. Das ihm aus seiner vorherigen Berufstätigkeit vertraute Milieu brauchte er dabei nicht zu missen: "Die Mädchen sind arbeitslose Flüchtlinge, ich habe sie bei meiner seelsorgerischen Tätigkeit kennengelernt."

Wen es in eine Karriere dritter oder vierter Wahl verschlägt, muß also nicht fürchten, mit all dem, was ihm am Herzen liegt, nicht mehr in Berührung zu kommen. Der gelernte Philosoph kann über Raum und Zeit auch und gerade als Fahrradkurier nachdenken. Die Germanistik-Absolventin wird erst als Sprechstundengehilfin in die Lage versetzt, ihre soziolinguistischen Fertigkeiten unter Beweis zu stellen. Der kellnernde Soziologe erhält Einblicke in die Gesellschaft, die ihm keine Lektüre und keine statistische Erhebung bieten kann. Das Naserümpfen über die Dienstleistungsgesellschaft kann aus dem Schicksal der von ihr betroffenen Individuen also nicht motiviert werden. Wer schon die Industriegesellschaft nicht als erniedrigend empfand, wird ihrer Nachfolgerin kaum weniger abgewinnen können. Und doch regt sich Enttäuschung der Menschen, darüber nämlich, daß man ein historisches Versprechen nicht halten konnte oder wollte: Das Reich der Notwendigkeit wird, an diesen Gedanken müssen wir uns langsam gewöhnen, in diesem Jahrtausend wohl nicht mehr überwunden werden. Das wäre noch zu ertragen, wenn denn diese Aufgabe demnächst nachgeholt würde. Doch dazu scheint niemand gewillt: Anstatt die Arbeit abzuschaffen, soll sie neu verteilt oder gar neue geschaffen werden. Auch hier wird Roman Herzog aber ein Zeichen nicht schuldig bleiben: Der Ruhestand, in den er im Frühjahr tritt, wird vorbildlich sein.


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