© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/99 08. Januar 1999


Europa: Wilhelm Henrichsmeyer über die Reformen der Agrarpolitik in der Agenda 2000
"Annäherung an den Weltmarkt"
Karl-Peter Gerigk

Am 1. Januar 1999 übernahm Deutschland den Ratsvorsitz in der EU. Es stehen Reformen in allen Bereichen an, um die EU effizienter, transparenter und demokratischer zu machen. Auch auf dem Agrarsektor. Die Positionen sind aber hier zum Teil gegensätzlich. Ist eine Einigung dennoch möglich?

Henrichsmeyer: Eine Einigung muß und wird es geben. Doch inwieweit es im Bereich der Agrarpolitik wirklich grundlegende Reformen gibt, ist noch nicht abzusehen. Die Interessenlage der verschiedenen EU-Mitgliedstaaten ist vielschichtig und unterschiedlich. Die Vorschläge der EU-Kommission sehen grundlegende Änderungen der Agrarpolitik vor, die letztlich auf eine allmähliche Liberalisierung des Agrarhandels und eine schrittweise Integration der Europäischen Agrarwirtschaft an die Weltwirtschaft abzielen. Die EU hat sich im Bereich Landwirtschaft lange Zeit gegenüber der Weltwirtschaft abgekapselt und eine Preisstützungspolitik verfolgt, die sich vor allem an landwirtschaftlichen Einkommenszielen orientierte. Dieses hatte zwangsläufig zunächst Produktionsüberschüsse und eskalierende Bugetausgaben, dann später staatliche Maßnahmen zur Mengenberenzung (Milchquoten, Zwangsbrache) zu Folge. Hierdurch war die EU-Agrarpolitik in eine Sackgasse geraten, die eine grundlegende Reform erforderlich machte. Mit der Agrarreform des Jahres 1992 wurde ein erster Schritt in diese Richtung getan, der jetzt mit den Reformvorschlägen der "Agenda 2000" fortgesetzt wird.

Wie soll die Integration der EU-Agrarwirtschaft nach der "Agenda 2000" in den Weltmarkt realisiert werden?

Henrichsmeyer: Die Grundvorstellungen der Reformversuche laufen im Kern darauf hinaus, die internen Stützpreise schrittweise an die Weltmarktpreise anzunähern und zur Kompensation der dadurch verursachten Einkommensverluste direkte Einkommenzahlungen an die Landwirte zu leisten. Hierdurch soll bewirkt werden, daß sich die Produktionsplanungen der landwirtschaftlichen Unternehmenrn an den weltweiten Knappheitspreisen orientieren und die staatlichen Maßnahmen zur Mengenbegrenzung aufgegeben werden können. Entsprechend würden dann auch die staatlichen Ausgaben für Marktinterventionen stark reduziert werden und könnten im Endzustand völlig entfallen. Statt dessen würden die staatlichen Direktzahlungen an die landwirtschaftlichen Haushalte, zumindest für eine Übergangszeit, die Hauptkomponente der staatlichen Ausgaben für die Agrarpolitik ausmachen. In Ergänzung zu diesen grundlegenden Änderungen im Bereich der Preis- und Einkommenspolitik sollen gemäß den Vorschlägen der Agenda 2000 Maßnahmen zum Umwelt- und Landschaftsschutz sowie zur ganzheitlichen Entwicklung ländlicher Räume ausgebaut werden.

Welche Maßnahmen sind für die verschiedenen Bereiche der landwirtschaftlichen Erzeugung, wie Milchwirtschaft oder Gretreideproduktion vorgesehen?

Henrichsmeyer: Das skizzierte Konzept soll im größten Teil der pflanzlichen Produktion, insbesondere bei Getreide- und Ölsaaten, weitgehend umgesetzt werden. Bei Realisierung der Reformvorschläge würden die staatlichen Interventionspreise für Getreide bis in die Nähe der im Durchschnitt der Jahre erwartbaren Weltmarktpreise abgesenkt, so daß diese nur noch ein Sicherheitsnetz für die Landwirte in Phasen stark gedrückter Weltmarktpreise darstellen würden. Hierdurch wird gleichzeitig auch eine erhebliche Verbesserung der Wettbewerbssituation der europäischen Veredelungswirtschaft (Schweine, Geflügel) bewirkt, da Produzenten dieser Veredelungsprodukte ihre Futtermittel zu Weltmarktpreisen einkaufen können. Wesentlich vorsichtiger sind die Reformvorschläge für den Bereich der Milchproduktion bemessen. Hier wird zwar auch der gleiche Grundsatz verfolgt, d.h. die Milchpreise sollen gesenkt und zur Kompensation der Einkommensverluste direkte Transferzahlungen geleistet werden. Bei Milchprodukten ist der Abstand zu den Weltmarktpreisen noch so groß, daß das Milchquotensystem nicht aufgegeben werden kann, ohne stark steigende Marktinterventionskosten befürchten zu müssen. Die Reformvorschläge für den politisch und sozial besonders sensiblen Bereich der Milchproduktion lassen sich daher nur als erster Einstieg in einen Reformprozeß verstehen, der signalisieren soll, daß auch in diesem Bereich im Laufe der Zeit grundlegende Reformen unvermeidlich sind.

Was bedeutet dies für die Einkommensentwicklung in Agrarsektor, also zum Beispiel für die Bauern in Frankreich und Deutschland?

Henrichsmeyer: Verschiedene wissenschaftliche Analysen auf gesamtwirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Ebene zeigen, daß die durch die Preissenkungen bedingten unmittelbaren Einkommensverluste durch die Transferzahlungen weitgehend ausgeglichen werden, so daß insgesamt gesehen eine Kontinuität der landwirtschaftlichen Einkommensentwicklung in der Übergangsphase zu erwarten ist. Auf Dauer ist die Sicherung der landwirtschaftlichen Einkommen jedoch nur dann zu erreichen, wenn sich der über mehrere Jahrzehnte vollzogene Prozeß landwirtschaftlichen Strukturwandels auch weiterhin fortsetzt. Durch die Umsetzung der Reformvorschläge würde den unternehmerisch orientierten Landwirten signalisiert, daß sie nur dann eine Chance als Vollerwerbsbetrieb haben, wenn sie ein Mindestmaß an internationaler Wettbewerbsfähigkeit erreichen. Dieses dürfte in der ersten Phase des Reformprozesses zu einer Beschleunigung des Strukturwandels führen, der jedoch langfristig ohnehin unvermeidlich ist. Es ist bedrückend zu sehen, wenn bereits heute viele landwirtschaftliche Haushalte beklagen, daß sie aus ihren Einkünften der landwirtschaftlichen Tätigkeit noch viele Jahre hohe Kapitaldienste (Zins und Tilgung) für Fehlinvestitionen vergangener Jahre zu tragen haben. Für viele landwirtschaftliche Haushalte dürfte es daher sinnvoller sein, sich bei ihren Berufs– und Investitionsentscheidungen bereits frühzeitig auf Formen der Zu- und Nebenerwerbslandwirtschaft einzustellen, die bereits heute in vielen ländlichen Räumen die bei weitem überwiegenden Formen landwirtschaftlicher Tätigkeit darstellen.

Zur Agrarwirtschaft zählt auch der Schutz der Umwelt und die Pflege der Landschaft; was sieht die "Agenda 2000" hierfür vor?

Henrichsmeyer: Bereits in der Agrarreform 1992 waren "begleitende" Maßnahmen vorgesehen, die auf eine Förderung der extensiven Formen der Landbewirtschaftung und des ökologischen Landbaus zielen. Diese Maßnahmen haben sich im großen und ganzen bewährt und sollen nach Vorschlägen der Agenda 2000 weiter ausgebaut werden. Teilweise werden auch Leistungen landwirtschaftlicher Betriebe für die Landschaftspflege entgolten, so daß diese Zahlungen für Landwirte an bestimmten Standorten zu einer ergänzenden Einkommensquelle geworden sind. Die meisten dieser Maßnahmen lassen sich jedoch nur vor Ort in Kenntnis der spezifischen regionalen Verhältnisse situationsgerecht gestalten. Die Umsetzung derartiger Maßnahmen muß daher weitgehend auf kleinregionaler und örtlicher Ebene gestaltet werden, wie es dem "Subsidiaritätsprinzip" entspricht.

Den Begriff "Subsidiarität " als Prinzip für die weitere Integration Europas hört man nun allenthalben und in unterschiedlicher Verwendung. Was bedeutet er für die Agrarwirtschaft in Europa?

Henrichsmeyer: Mit den Vorschlägen der Agenda 2000 ist auch die Frage um eine zweckmäßige Zuordnung der Kompetenzen auf verschiedenen Entscheidungsebenen (EU, Mitgliedstaaten, Bundesländer, Kommunen) verstärkt in die Diskussion gekommen. Im Bereich der Agrarpolitik gilt das vor allem für die Frage, ob die unmittelbaren Einkommensübertragungen alleine aus der Brüsseler Kasse oder teilweise aus den nationalen Haushalten finanziert werden sollten, sowie für die Zuordnung der Kompetenzen im Bereich der der Umwelt- und Regionalpolitik. Ein allgemeiner Grundsatz sollte dabei sein, die Kompetenzzuordnung so vorzunehmen, daß von den Betroffenen Nutzen und Kosten der jeweiligen Maßnahmen am besten beurteilt werden können. Im Bereich der Agrarumweltpolitik bedeutet dieses, daß die Entscheidungs-, Durchführungs- und Finanzierungskompetenzen weitgehend auf der regionalen oder auch lokalen Ebene angesiedelt sein sollten. In der Diskussion um die Vorschläge der Agenda 2000 werden diese Fragen derzeit noch strittig argumentiert.

Ist die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder, insbesondere die Einbeziehung des Agrarstaates Polen, keine Verschärfung des Problems?

Henrichsmeyer: Wenn die Probleme der Transformation in den mittel- und osteuropäischen Ländern überwunden sind, führt die Osterweiterung zweifellos zu einer Erhöhung des agrarischen Potentials Europas im Verhältnis zum heimischen Bedarf. Die Weltmarktorientierung der europäischen Agrarpolitik und Agrarwirtschaft erscheint vor diesem Hintergrund noch dringlicher. Polnische Landwirte sind dann nicht mehr Wettbewerber auf dem europäischen Markt, sondern zusammen mit der übrigen europäischen Landwirtschaft Anbieter auf den wachsenden Weltmärkten.

Wird mit der EU-Agrarreform denn überhaupt Geld eingespart?

Henrichsmeyer: Die Hauptzielsetzung der EU-Agrarreform ist nicht die unmittelbare Einsparung von Budgetmitteln, sondern die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft, die langfristig eine Subventionierung der Produktion entbehrlich macht. Unmittelbare Zielsetzung der Agenda 2000-Vorschläge kann es daher nur sein, im Rahmen eines vorgegebenen Finanzrahmens möglichst viel an Reform auf der politischen Ebene im Ministerrat auf den Weg zu bringen. Ob und wie dieses gelingt, ist eine spannende Frage des nächsten halben Jahres.

 

Prof. Dr. Wilhelm Henrichsmeyer lehrt Volkswirtschaft, Agrarpolitik und Landwirtschaftliches Informationswesen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm Universität Bonn. Geboren am 24. Juli 1935, studierte er zwischen 1957 und 1961 Landwirtschaft und Volkswirtschaft an der Universität Bonn und promovierte 1965. Ab 1963 war er Assistent in Stuttgart-Hohenheim, wo er 1970 habilitierte. Seine besonderen Arbeitsgebiete sind Agrarökonomie, Regionalplanung und Politikinformationssysteme. Seit 1990 ist er Leiter des European Center for Agricultural, Regional and Environmental Research (EuroCare) in Luxemburg und Bonn und seit 1991 Vorsitzender des Institutes für europäische Integrationsforschung (IEIF) in Bonn.


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