© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/99 08. Januar 1999


Pankraz,
Walter Giller und der Seesack der 100 Tage

Es ist kurios: Beim Betrachten der ersten hundert Tage der neuen Bonner Regierung fällt Pankraz ausgerechnet ein Uralt-Sketch mit Walter Giller ein, der einmal im Fernsehen lief. Giller kommt da als abgemusterter Matrose, nachdem er jahrelang die Ozeane befahren hat und fern der Heimat war, endlich nach Hause zu seinem lieben Mütterlein in Hamburg-Altona. Es gibt eine stürmische, tränenreiche Begrüßung, Umarmungen, Küsse. Giller packt aus seinem Seesack allerlei Mitbringsel aus – aber siehe, allmählich stellen sich beim Gespräch mit dem Mütterlein gewisse Unstimmigkeiten ein. Es gibt irritierte Pausen, schließlich läßt sich nicht mehr verkennen: Das liebe Mütterlein ist gar nicht Gillers liebes Mütterlein, er hat sich in der Adresse geirrt, das liebe Mütterlein ist eine wildfremde Frau.

Das wurde damals umwerfend komisch gespielt und hatte sogar philosophischen Tiefgang. Wiederbegegnung als Irrtum, der sich nur langsam auflöst, Wiedersehensfreude, die plötzlich stockt, verstörte Fragezeichen über scheinbar vertrautestem Gelände. Gibt es auch in der Politik solche Situationen?

Nun, die Begegnung der Regierung Schröder mit der Macht am Rhein erinnert in vielem frappierend an jenes Unternehmen "Seesack in Altona". Mit Gesten allergrößter Wiedersehensfreude fiel man letzten Oktober ins Kanzleramt und in die Ministerien ein, auch die beamteten Stäbe dortselbst zeigten sich freudig überrascht, Geschenke, Komplimente wurden ausgetauscht, alles duftete nach Heimat und gutgeöltem Neuanfang. In dem aufgekratzten Getöse hörte man zunächst nicht, daß faktisch alle aneinander vorbeiredeten. Erst heute, da erste Bilanzen gezogen werden, dämmert es bei einigen, daß sie offenbar in eine völlig fremde Wohnung hineingeraten sind.

Keines der ausgepackten Geschenke löst bei den Adressaten Enthusiasmus aus, man versteht nicht einmal ihren Sinn, weiß nicht, wozu sie eigentlich gut sein sollen. Verlegen steht man um Mütterlein Macht herum und schämt sich ein bißchen der stattgehabten Umarmungen. Von Aufbruchstimmung keine Spur. Nicht einmal gute Stichworte werden erwartet, die die entstandene Peinlichkeit auflösen könnten.

Kanzler Schröder als oberster Stichwortgeber hat seinen Stil überhaupt noch nicht gefunden. Hat er denn einen? Wird er je einen vorzeigen können? Man weiß es nicht. Es rumort die dumpfe Ahnung im Volk, daß der Mann all seine Munition bereits verschossen hat, daß nichts mehr nachkommt. Die eleganten Medienauftritte in der Wahl- und Vorwahlzeit, die Beschwörung der neuen Mitte, die Mär vom Bessermachen statt vom Andersmachen – das war’s schon, so wird befürchtet. Es wäre ein bißchen wenig.

Aber auch des Kanzlers oberster Palladin und Idealkonkurrent Lafontaine, der sich nach dem Wechsel besonders laut vernehmen ließ, ist kleinlaut geworden und sendet widersprüchliche Signale aus. Andere, wie Schily, stoßen, nachdem sie eine Lippe riskiert haben, auf keifenden Widerspruch aus den eigenen Reihen, so daß es immer unwahrscheinlicher wird, daß ihren Worten je Taten folgen werden.

Selbst Koalitionsarithmetik läßt sich in dem Durcheinander nicht erkennen. Die Mißverständnisse ziehen sich quer durch die beteiligten Parteien, ja, sogar durch die beteiligten Einzelpersonen. Die alte Politikerregel "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern" erfährt zeitgemäße Zuspitzung: "Was kümmert mich mein Geschwätz von heute. Dem Publikum ist’s eh wurscht."

Man hätte ja von einer rot-grünen, angeblich volksnahen Truppe zumindest eine Verbesserung der Rhetorik erwarten dürfen: allgemeinverständliche Formulierungen, Konzentration auf das Wesentliche. Doch das Gegenteil ist der Fall. Noch nie wurde in Bonn so kryptisch und kleinteilig über Steuerreform und anderes dahergeredet. Alle Beteiligten operieren mit winzigen Worthülsen aus steuerberaterischem Fachjargon und interfraktionellem Ausschuß-Deutsch, mit denen kein Außenstehender etwas anfangen kann, die aber gleichwohl wie schwere Säbel durch die Luft bewegt werden, als gelte es, den Drachen zu töten.

Die einzige Hoffnung der Koalition liegt zur Zeit in der Verfaßtheit der parlamentarischen Opposition, die es tatsächlich fertigbringt, die sichtliche Verlegenheit und Bedeppertheit des aktuellen Regierungspersonals noch zu überbieten bzw. zu unterbieten. Schäuble und seine Jungen Wilden sind eine Gespenstergarde im Zwergenformat, vor der wirklich kein Linker mehr Angst zu haben braucht. Wenn diese Garde heute angefahren käme, um das Mütterlein in Altona zu begrüßen, würde sie gar nicht erst in die Wohnung eingelassen. Es wäre sofort klar, daß sie auf den falschen Klingelknopf gedrückt hat.

So gibt es denn also nur einen einzigen Gewinner der ersten hundert Tage von Bonn, nämlich Bayerns Ministerpräsident Stoiber, der seit der Wahl alles richtig gemacht hat, von dem aber von vornherein ausgemacht ist, daß er kein Mütterlein in Altona sitzen hat. Er würde im Matrosenanzug und mit dem Seesack über der Schulter auch eine ziemlich befremdliche Figur abgeben.

Wenn sich Pankraz richtig erinnert, ging der Sketch mit Walter Giller damals so aus, daß sich der Ex-Matrose, nachdem er die Sache mit dem fremden Mütterlein in tiefer Verdutztheit verdaut hatte, artig bei demselben enschuldigte und die Erwartung aussprach, daß sich über kurz oder lang "der richtige Sohn" einfinden würde. Soviel Höflichkeit ist von leibhaftigen Politikern natürlich nicht zu erwarten. Sie werden sich in der Wohnküche irgendwie einrichten und dabei auch mancherlei Routine entwickeln. Aber richtig Spaß machen wird es wohl nicht mehr.

Auch ist leider keineswegs ausgemacht, ob der "richtige Sohn" in der Kulisse steht und je seinen Auftritt bekommen wird. Vorerst spielt das Stück "Die Eingeschlossenen von Altona".


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