© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/99 08. Januar 1999


Heimito von Doderer: Radikaler Erneuerer einer Nationalprosa
Unversöhnliches vereint
Andrzej Madela

Wahrscheinlich konnte nur das politisch schlecht gelüftete Österreich der frühern 50er Jahre das treibhausähnliche Klima schaffen, in dem er fast über Nacht zum vielumjubelten Romantiker, Nobelpreisanwärter, ja gar dem unbestrittenen Staatsdichter Nummer eins aufstieg. Unter der Käseglocke aus restaurativer Gesinnung, modernitätsfeindlicher Kulturkritik und staatlich dekretiertem Gedächtnisverlust war er ein jedenfalls biographisches und ästhetisches Phänomen erster Güte: Wann passiert es schon, daß ein knapp 60jähriger Eigenbrödler zum radikalen Erneuerer einer Nationalliteratur wird?

Heimito von Doderers Lebensweg bedeutet vor allem eines: Wien. In dem nahegelegenen Weidlingau wird er 1896 in einer wohlhabenden Bürgersfamilie geboren, in Wien wächst er auf und besucht das Gymnasium; von hier aus geht er in den Krieg. Hierher kommt er aus russischer Gefangenschaft 1920 zurück, das Studium der Geschichte und das Thema seiner Promotion sind damit verknüpft, ganz zu schweigen von den zahlreichen Romanen, die ebenfalls in der Habsburger Metropole spielen, genauso übrigens wie Doderers eigenes Leben, das nach einer zeittypischen Unterbrechung als NSDAP-Mitglied (1933–1938), Wehrmachtsoffizier (1940–1945) und Kriegsgefangener bei den Briten ab 1946 wieder Anschluß an die engere Heimat gewinnt. Diese nimmt ihn bereitwillig auf: Der erklärte Antisemit Doderer wird von einer Entnazifierungskommission für "minderbelastet" erklärt und kurze Zeit später in den neugegründeten österreichischen PEN-Club aufgenommen.

In die Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur stürmt Doderer mit zwei im Jahr 1951 erschienenen Romanen: "Die erleuchteten Fenstern oder die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal" und "Die Strudlhofstiege", denen 1956 die vielbewunderten "Dämonen" folgten. Alle drei bringen ihm den Ruf eines radikalen Erneuerers der österreichischen Nachkriegsprosa, "Die Strudlhofstiege" und "Die Dämonen" überdies Auszeichnungen, Ehren und fortan beeindruckend hohe Auflagen.

Im Gegensatz zur überwältigenden Mehrheit der schreibenden Zunft ist Doderer nicht bereit, sich auf die restaurativ gewirkte Pflege einer harmonisch-beschaulich grundierten Habsburger-Nostalgie einzulassen. Idyllische Welt, verklärte Vergangenheit und patriarchialisch-ländliche Überlieferung sind ihm ein Greuel. Den restaurativen und schlicht modernitätsfeindlichen Zügen eines geschichtsvergessenen Habsburger-Mythos hält er sein Bild von Wien entgegen, das von den letzten Jahrzehnten der Monarchie bis in die späten 20er Jahre reicht.

Daß sich in seinem Wien-Bild eine Opposition gegen die Österreich-Utopie im restaurativen Gesellschaftsgewand manifestiert, ist jedem klar, der auch nur fünfzig Seiten der "Strudlhofstiege" gelesen hat. Da ist nichts mit der Beschaulichkeit einer kleinen Welt in mild-güldenem Lichte. Doderer entwirft geradezu verschwenderisch ein weitgespanntes Panorama von Wien, das von der Zuhälterszene über Arbeiterschaft und Beamtentum bis hin in die katholisch gesalbte Führerschaft des künftigen Ständestaates nahezu jede Sozialgruppe der ersten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts einfängt.

Barocken Reichtum läßt er auch im Formalen walten. Beschränken sich die Verfechter einer verklärenden Rückschau auf einige wenige, meist stark verbrauchte Motive aus der Mottenkiste, legt er gleich ein halbes Dutzend erfrischender Perspektiven vor. So sind "Die Dämonen" auch ein Gesellschaftspanorama der 20er Jahre; doch sie sind gleichzeitig ein unheimlich spannender Abenteuerroman, eine minutiös-geführte politische Chronik, ein weitverzweigtes Melodram erster Güte und eine augenzwinkernd verfaßte histoire scandaleuse mit kriminalistischen Einsprengseln. Und es versteht sich von selbst, daß für jedes Motiv ein jeweils anderes Personal zur Verfügung steht, das ein jeweils anderes Deutsch spricht.

Überhaupt: die Sprache in seinen Romanen. Leidet die rückwärtsgewandte Prosa der Levnet-Holenia, Fritsch, Gütersloh und Tumler an einem auffälligen Mangel an guten Dialogen, gibt es diese bei Doderer in Hülle und Fülle. Da ist zum einen das abrupt-zackige, ranke, expressive Sprechen der unteren Schichten; da ist die zur halbgebildet-hohlen Phrase neigende, seines neuerworbenen Wortschatzes unsichere Rede der neureichen Parvenüs mit ihrem steten Bemühen um französische und englische, meist fehlplazierte Modewörter; da ist die "Zweisprachigkeit" eines Beamtentums in zweiter Generation, das zwischen legerer Umgangssprache und gewundenem Kanzleideutsch changiert, und da ist schließlich die von Doderer in artifizielle Formen gegossene Sprache der Amtsstube, die mit ihrem ganz spezifischen Vokabular und dem dahinterstehenden Weltverständnis alle Nuancen des Lebens zu erfassen sucht (urkomische Effekte inklusive).

Er knüpft das Erzählgewebe über hundert eigenständige Fäden zusammen, läßt mitten im Werk den (vermeintlichen) Autor einen anregenden Plausch mit der Leserschaft halten und ist sich der ausgeprägten Modernität seines Werkes bewußt. Aber er ist ein Erneuerer mit festen Prinzipien: Von dem Gerede über Vereinsamung des einzelnen hält er nichts, "Undurchschaubarkeit der Welt" ist ihm eine Phrase für Halbgebildete, und den Verzicht auf Geschichte im Roman nennt er ein Versagen. Was Wunder also, daß er Robert Musil und James Joyce haßt wie die Pest und gerade den Roman zu einer Erkenntnisform erklärt, in der Erzählerisches, Geschichtliches und Völkerpsychologisches zusammenfließen – am markantesten wohl in seinem Essay "Grundlagen und Funktion des Romans" (1959).

Von dieser sonderbaren Mischung aus Modernität und Traditionsbewußt-sein geht eine Sogwirkung aus, die scheinbar Unversöhnliches vereint, sozialen Frust und ästhetisches Spiel, Lachmuskelstrapaze und Wertbewußtsein, Verantwortung für das Wort und Sorglosigkeit erzielter Komik. Wer gesellschaftsgeschichtliche Epen nicht mag, muß Doderer spätestens bei der Lektüre der "Erleuchteten Fenster" verfallen, einem Werk über das geschlechts- und elternlose Wesen Julius Zihal, das seine in Amtsstuben verlorengegangene Jugend durch Beobachtung von Damen durchs Schlüsselloch zurückzugewinnen sucht. Voyeurismus ist aber wider Erwarten nicht im Spiel; wohl aber ist der Amtsrat in der Lage, aus den wechselnden Formen von Seifendosen, Farben von Handtüchern und Gerüchen von Badezusätzen den Niedergang der Monarchie mühelos zu erklären. Diese Einsicht ist im doppelten Wortsinn eine intime: Sie macht auch mentalitätsbedingte Neigungen manifest, läßt Geschichte im Detail aufscheinen und treibt unterhaltsam Erkenntnis von Sein und Bewußtsein.


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