© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/99 08. Januar 1999


Quo vadis, CDU?
von Eckhard Nickig

Nach der verlorenen Bundestagswahl gibt es in der CDU zahlreiche Stimmen, die den Kurs der Partei nach links verschieben wollen, auch wenn es ausdrücklich nicht so genannt wurde. Vor allem aus den Reihen der jüngeren Landespolitiker hieß es, das soziale Profil der CDU sei vernachlässigt worden, man müsse sich multikulturellem Gedankengut öffnen, Deutschland als Einwanderungsland akzeptieren, sich stärker Alleinlebenden, Alleinerziehenden und Homosexuellen zuwenden sowie die Option schwarz-grüner Bündnisse auf Landes- und Bundesebene in Betracht ziehen. Der niedersächsische CDU-Vorsitzende Wulff sah allen Ernstes eine Ursache der Niederlage darin, daß die CDU den Anschluß an die Armutsdebatten der Kirchen verloren und ihre "Entrüstungsfähigkeit" über soziale Mißstände eingebüßt habe.

Es wurde festgestellt, daß der Anteil der Single-Haushalte steige und die Zahl der Kirchenmitglieder zurückgehe und daraus Konsequenzen für die CDU erwachsen müßten. Welche Konsequenzen konkret daraus zu ziehen sind, bleibt unklar. Die CDU-Nachwuchskräfte sind über triviale Gesellschaftsanalysen noch nicht hinausgekommen. Soll die CDU noch stärker in das Antidiskriminierungsgeschwafel einstimmen, Frauenbüros und Homosexuellenbeauftragte fordern? Ist die CDU abgewählt worden, weil sie sich zu stark für Familienwerte und christliche Werte einsetzte? Es ist wohl eher das Gegenteil richtig: zuwenig Einsatz für die Familie dürfte zu den Stimmenverlusten beigetragen haben.

Selbst die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft wurde aus den Reihen des "Deutsch-Türkischen Forums", einem Zusammenschluß deutscher und türkischer CDU-Mitglieder in Nordrhein-Westfalen, in Frage gestellt. Der CDU-Politiker Hans Stercken hatte bei einer Veranstaltung dieses Forums die angeblich "starre Haltung der CDU in der Ausländerpolitik" kritisiert und erklärt: "Mit wem wollen wir sonst noch Wahlen gewinnen?"

Auch hier wäre wohl eher die umgekehrte Frage angebracht: Wer soll die CDU eigentlich noch wählen, wenn sie sich auch noch in der Ausländerpolitik an Rot-Grün annähert? In der Debatte um ein Einwanderungsgesetz und die doppelte Staatsbürgerschaft hat man ohnehin den Eindruck, daß sich die CDU für ihre Ablehnung fast entschuldigt und bemüht ist, Kompensationen anzubieten.

Die Forderung nach einer Öffnung der CDU entspringt zunächst einer offensichtlich rein machtpolitischen Fragestellung: Welche Ziele müssen wir vertreten, um die Mehrheit zu gewinnen? Da die Gesellschaft immer bunter, multikultureller, ungebundener und individualistischer werde, müsse auch die Programmatik der CDU entsprechend flexibel ausgestaltet werden, damit die Partei mehrheitsfähig bleiben kann, so die dahinterstehende Überlegung. Doch diese Prioritätensetzung ist höchst fragwürdig. Eine politische Partei muß selbstverständlich machtbewußt sein, doch sie darf machttaktische Fragestellungen niemals an die erste Stelle setzen. An erster Stelle muß die Überlegung stehen: Mit welchem Programm können wir die Probleme unserer Gesellschaft am besten meistern? Mit welchen Überzeugungen und Werten können wir unser Land in eine dauerhaft stabile Zukunft führen? Vor diesem Hintergrund war die Schwarz-Grün-Debatte nach der Wahl das Destruktivste, was sich die CDU leisten konnte.

Führt man sich die Zukunftsprobleme unserer Gesellschaft vor Augen – Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, Bürokratisierung, Verschuldung, Kriminalität, Ausländergettos, Ressourcenverbrauch – so liegt die Lösungskompetenz dafür kaum im liberalen Bereich, sondern auf konservativer Seite.

Den dramatischen Schwund der deutschen Bevölkerung, die nach Prognosen bis 2040 auf 70 Millionen und danach noch drastischer absinken wird, kann man nicht durch die Anerkennung der Homosexuellen-Ehe im Grundgesetz bekämpfen, sondern durch die Förderung intakter Familien.

Die Ausländerkriminalität und die auf deutschem Boden ausgetragenen Kämpfe zwischen ausländischen Volksgruppen kann man nicht dadurch bekämpfen, daß man diesen auch noch die deutsche Staatsbürgerschaft verleiht, sondern nur durch harte Strafen und Abschiebung krimineller Ausländer.

Die Staatsverschuldung kann man nicht durch sozialpolitische Versprechungen bekämpfen, sondern nur durch eine gezielt auf Eigenverantwortung und Entbürokratisierung setzende Politik.

Der Publizist Thomas E. Schmidt bemerkte nach der Bundestagswahl zu den jüngeren Landespolitikern der CDU: "Keiner dieser jungen Berufspolitiker repräsentiert mehr eines der klassischen Milieus der CDU oder steht ganz für jenen uneinheitlichen, aber suggestiven Konservatismus, mit dem die CDU seit Gründung der Republik Profil gewann. Vielleicht liegt gerade darin das Problem der CDU. Die CDU hat sich bereits in hohem Maße geöffnet, und es ist ihr schlecht bekommen. Die profillosen Geißler/Süssmuth-Jünger in den Bundesländern haben vor allem eins erreicht, nämlich miserable Wahlergebnisse.

Die CDU hat sich aus christlichen, konservativen und liberalen Quellen konstituiert. Konrad Adenauer erklärte nach dem Krieg, daß die meisten Anhänger des früheren Zentrums sowie der Rechtsparteien und Parteien der Mitte die Notwendigkeit erkannt hätten, sich in einer neuen Partei auf ethischen Grundsätzen zu sammeln. Heute ist der Zusammenhalt dieser drei Säulen mehr bedroht denn je. Die CDU droht in einen konservativen, einen christlich-demokratischen und einen liberalen Teil auseinanderzufallen. In Frankreich ist dieses Auseinanderdriften des bürgerlichen Lagers exakt vollzogen worden. Der konservative Flügel der CDU ist in den Führungsgremien der Partei zwar nicht mehr vertreten. Bei den Mitgliedern außerhalb der abgestumpften Funktionärskader dürfte der Anteil hingegen noch bis zu einem Drittel betragen. Immerhin gibt es zum Beispiel in Berlin und Frankfurt starke konservative Minderheiten.

Selten wurde so intensiv über das "C" der CDU diskutiert wie in den Monaten nach der Bundestagswahl. Der Machtverlust der Union wurde mehr oder weniger unausgesprochen auch auf einen rasanten Verlust christlicher Wertvorstellungen zurückgeführt. Ist die christlich-demokratische Ideenwelt in Deutschland unwiderruflich in die Minderheitenposition geraten? Muß die CDU ihre Bindung an das Christentum relativieren oder gar überwinden? Noch immer kann man sich in der CDU auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Orientierung am "christlichen Menschenbild", einigen, der offen auch nicht von den liberalen Jungpolitikern in Frage gestellt wird. Doch dieses christliche Menschenbild bleibt so vage, daß hierin alle möglichen politischen Positionen Platz finden können.

Auf die Frage einer Zeitschrift, welches der verschiedenen christlichen Menschenbilder zwischen Bischöfin Jepsen und Bischof Dyba die CDU denn nun vertrete, wußte auch der philosophisch versierte rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Christoph Böhr keine Antwort zu geben. Er beschränkte sich darauf, auf den schwindenden Einfluß des Christentums in der Gesellschaft hinzuweisen. Doch welche Schlußfolgerungen zieht die CDU daraus? Stellt sie sich diesem Trend entgegen und wirbt für ein christliches Menschenbild? Oder folgt sie dem Trend und öffnet ihre Ideenwelt für atheistische und andere religiöse Politikverständnisse?

Hat die CDU in den letzten 16 Jahren christliche oder konservative Werte je offensiv vertreten? Ein offensives Auftreten wie zum Beispiel das der bürgerlichen französischen Abgeordneten Christine Boutin, die mit der Bibel in der Hand in der Nationalversammlung gegen die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen wetterte, ist aus den Reihen der CDU undenkbar. Daß gar Zehntausende in der deutschen Hauptstadt gegen die Homosexuellen-Ehe demonstrieren wie in Paris, ist noch unvorstellbarer. Der Frankreich-Korrespondent der FAZ, Jürg Altwegg, bemerkte dazu: "In den Debatten um den ’Pacs‘, der das Zusammenleben unverheirateter Paare juristisch regeln soll, hat sich die Rechte zu konservativen Werten, die dem Zeitgeist zuwiderlaufen, bekannt. Es ist ihr gut bekommen – politisch wie intellektuell." Auch die CSU hat sich geistig nicht in die Defensive drängen lassen. Sie demonstrierte zusammen mit Christen zu Zehntausenden im München gegen das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Wahlergebnisse der CSU sind bekannt.

Die CDU hat wertkonservative Grundsätze, wenn überhaupt, rein defensiv vertreten. Ob beim Lebensschutz Ungeborener, dem Schutz der Familie oder der nationalen Identität – das Zurückweichen der CDU war offenkundig. Bis in die Sprache hinein hat sich die CDU dem linksliberalen Meinungsstrom unterworfen. Eine links-alternative Sprachverhunzung wie das sogenannte "Binnen-I" ist mittlerweile selbst in CDU-Kreisen gang und gäbe.

Allzuoft, wie beim Thema doppelte Staatsbürgerschaft, zieht sich die CDU auf verfassungsrechtliche Argumente zurück, wo wertkonservative Argumente notwendig wären. In der von Martin Walser angestoßenen Debatte um die Instrumentalisierung von Auschwitz war die CDU weitgehend stumm. Wenn man die Gesichter der beiden neuen CDU-Führungsfiguren Schäuble und Rühe bei der Rede des Friedenspreisträgers in der Frankfurter Paulskirche sah, mußte man wohl annehmen, daß diesen das Thema eher peinlich ist.

Während Gerhard Schröder den Begriff der "Berliner Republik" positiv für einen Aufbruch zu nutzen versucht, blockt die CDU hier ängstlich ab. Während Schröder mit seiner Forderung nach Senkung der deutschen Netto-Zahlungen an die EU deutlich nationale Interessenpolitik formulierte, kanzelte die CDU dies als "Populismus" ab. Die Union scheint ein ureigenstes Feld, das Thema Nationalbewußtsein und nationale Identität, zugunsten einer illusionären Europapolitik geopfert zu haben. Ex-Bundeskanzler Kohl schien diesen Mangel wohl erkannt zu haben, als er eine Woche vor der Bundestagswahl der FDP empfahl, sich mehr auf das Thema Nationalgefühl und Nationalbewußtsein zu konzentrieren. Der Koalitionspartner sollte den Bereich abdecken, den man selbst schon aufgegeben hatte.

Überhaupt sind es weniger die vielen Single-Haushalte, die den bürgerlichen Parteien in Europa das Leben schwer machen, als vielmehr die Uneinigkeit in der Europapolitik. In England wie in Frankreich sind die konservativen Parteien über die Europapolitik tief zerstritten. Die CDU gibt sich zwar noch geschlossen als Europapartei aus. Die Chance, die deutsche Einheit als Impuls für einen Aufbruch zu einer "selbstbewußten Nation" zu nutzen, wurde vertan. Da Helmut Kohl die Bundestagswahl selbst ausdrücklich auch als Volksabstimmung über seine Europapolitik bezeichnet hat, hätten seine Epigonen ihn beim Wort nehmen und den Kurs ändern sollen. Statt dessen bunkert sich die Schäuble-CDU in Kohls Europa-Illusionismus ein.

In einem jüngst erschienenen Sammelband zum Thema Europa wird die Frage gestellt: Was wird aus Deutschland, wenn Europa scheitert? Die CDU wäre von einer solchen Situation jedenfalls hoffnungslos überfordert. Was der CDU-Nachwuchs zum Thema "nationale Identität" zu sagen hat, kann man zum Beispiel in dem RCDS-Blatt Civis mit Sonde nachlesen. Dort erklären der Frankfurter CDU-Vorsitzende Udo Corts und sein Co-Autor Matthias Zimmer: "Deutsche Identität kann sich nicht mehr in Abgrenzung und Ausgrenzung konkretisieren, sondern kann nur auf einen Kanon gemeinsamer Werte und Leitvorstellungen gegründet werden. Nur hieraus, nicht aber aus einem nationalen Gründungs- und Herkommensmythos, läßt sich eine vernünftige Identität begründen, die letztlich auch eine Voraussetzung für die Legitimität politischer Ordnungen ist."

Gleichzeitig wird routinemäßig ein profiliertes christliches Menschen- und Weltbild gefordert. Wie man ein solches Menschenbild formulieren will, ohne sich abzugrenzen, bleibt schleierhaft. Für Amerikaner, Briten und Franzosen wäre die Forderung, auf ihren nationalen Gründungsmythos zu verzichten, absurd. Die CDU hat lange geglaubt, mit dem Absingen der Nationalhymne auf Parteitagen ihren Beitrag zum Nationalbewußtsein erfüllt zu haben. Tatsächlich hat sie die Meinungsführerschaft auf diesem Feld längst verloren.

Einig sind sich die führenden CDU-Politiker in der Beschwörung der Partei als "Volkspartei der politischen Mitte". Immer wird gefordert, die "Mitte" wiederzugewinnen. Das Unfruchtbare und Phrasenhafte dieser Diskussion ist offensichtlich. Johannes Groß bemerkte spöttisch, die politische Mitte liege immer da, wo die Mehrheit ist. Die Formel "Partei der Mitte" heißt nichts anderes als "Partei der Mehrheit": eine Leerformel am Rande des Schwachsinns, die dennoch ständig mit großer Ernsthaftigkeit vorgetragen wird. Helmut Kohl hat die CDU 16 Jahre lang mit großer Inbrunst als "Partei der Mitte" definiert und damit von Wahl zu Wahl Stimmen verloren. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich neu zu positionieren.

Man kann es drehen und wenden wie, man will. Ob die CDU mit einem stärker bürgerlich-konservativen Profil wieder mehrheitsfähig werden kann, kann niemand sagen. Sicher ist allerdings, daß die Strategie der weiteren Liberalisierung der CDU ohne jede Aussicht auf Erfolg ist. Wenn der Hase CDU dem Swinigel Rot-Grün weiter hinterherhechelt, wird er am Ende tot sein.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen