© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Armut: Gerichtsvollzieher und Vollstreckungsrichter haben reichlich zu tun
Der "Kuckuck" klebt immer häufiger
Georg Bensch

In Deutschland haben Gerichtsvollzieher und Vollstreckungsrichter reichlich Arbeit. Denn: Die schwierige gesamtwirtschaftliche Lage hat zu einem dramatischen Anstieg der Zwangsvollstreckungen geführt. Im vergangenen Jahr haben Gläubiger bei deutschen Gerichten 2,1 Millionen Vollstreckungen beantragt. Betroffen von dieser betrüblichen Entwicklung waren normale Haushalte, zunehmend aber auch mittelständische Unternehmer.

Man will es in politischen Kreisen nicht wahrhaben, aber es ist erschreckende Realität: In über 7,4 Millionen Haushalten klebten 1998 Gerichtsvollzieher "Kuckucks". Dabei mußten in insgesamt 860.000 Fällen die Schuldner vor Vollstreckungsrichtern eine eidesstattliche Versicherung abgeben und auf diese Weise ihre Zahlungsunfähigkeit bekunden. Die meisten Schuldner, die vom "Kuckuck-Kleber" aufgesucht wurden, waren Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und alleinerziehende Frauen. Aber auch immer mehr Menschen mit geregeltem Einkommen gehören zum Kundenkreis der deutschen Gerichtsvollzieher. So erhielten allein im vergangenen Jahr 9,8 Millionen Arbeitnehmer einen Pfändungsbeschluß zugestellt. Die meisten dieser Schuldner lebten über ihre Verhältnisse – sie gaben mehr Geld aus, als sie erwirtschafteten.

Es sind aber nicht nur Normalbürger, die zunehmend in die Netze der Gerichtsvollzieher fallen, auch immer mehr Unternehmer treten den Gang zum Konkursgericht an, weil sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können oder überschuldet sind. So stieg in den letzten Jahren allein im mittelständischen Bereich die Zahl der Firmenpleiten stark an. Mit 28.000 Insolvenzen wurde 1998 ein neuer Höchststand an Firmenpleiten in Deutschland erreicht. Nach Expertenberechnungen summieren sich die betriebs- und volkswirtschaftlichen Verluste aus diesen Konkursen auf rund 75 Milliarden Mark. Von Konkursen vorwiegend betroffen waren Betriebe der Bauwirtschaft, gefolgt von Unternehmen im Dienstleistungssektor und dem Einzelhandel. Viele dieser zusammengebrochenen Firmen – darunter alte Familienbetriebe – konnten im Preiswettbewerb mit Unternehmen aus EU-Billiglohnländern nicht mithalten. Nicht wenige wurden aber auch durch die gnadenlose Marktbeherrschung der großen Konzerne in die Pleite getrieben.

Nicht gerade beruhigend ist aber auch dies: Die Zahl der Zwangsräumungen von Wohnungen nimmt in Deutschland zu. Allein im vergangenen Jahr gingen bei den deutschen Amtsgerichten nahezu 53.200 Räumungsklagen ein. In 18.320 Fällen wurden die Mieter nach dem Urteil der Richter aus ihren Wohnungen verwiesen. Als Gründe für die Räumungsklagen nannten Wohnungsunternehmen hohe Mietrückstände oder vertragswidriges Wohnverhalten. Nach Beobachtungen der Schuldnerberatungen kommt es bei immer mehr Menschen in Deutschland zu Mietschulden, weil das neue Auto oder die teure Urlaubsreise einen weit höheren Stellenwert haben als das Wohnen. Doch die meisten Bürger kommen mit ihren Mietzahlungen in Verzug, weil sie von Arbeitslosigkeit betroffen sind und die ständig steigenden Wohnkosten nicht mehr aufbringen können. Und nicht zuletzt: Auch bei Eigenheim- und Grundbesitzern erscheint immer öfter der Gerichtsvollzieher. Denn es kommen von Jahr zu Jahr mehr Immobilien unter den Hammer. Allein im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Zwangsversteigerungstermine gegenüber 1997 um 26,1 Prozent auf 29.416 Fälle. Wie aus Fachkreisen verlautete, erreichte die Summe der amtlich festgesetzten Verkehrswerte bei den Versteigerungsterminen eine Höhe von 23,9 Milliarden Mark. Gegenüber dem Vorjahr stieg die Zahl der Zwangsversteigerungen bei gewerblich genutzten Objekten um 64 Prozent, bei Eigentumswohnungen um 37 Prozent und bei Wohnhäusern um nahezu 30 Prozent. Die Gründe für diese negative Entwicklung sind in der wachsenden Zahl von Firmenpleiten und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit zu suchen, die viele Haus- und Wohnungseigentümer in eine aussichtslose finanzielle Lage bringen. Aber auch Streitigkeiten bei Erbschaften und Ehescheidungen enden immer häufiger mit einer Zwangsvollstreckung.

In Deutschland ersticken Vollstreckungsrichter und Gerichtsvollzieher in einer steigenden Zahl von Verfahren. Kein Wunder: die Ver- und Überschuldung der Menschen nimmt stetig zu.


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