© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/99 15. Januar 1999


Pankraz,
die neue Carolina und das Jahr der Folter

In "Steins Kulturkalender" findet Pankraz für das Jahr 1399 u. a. folgenden Eintrag: "Überall in Europa werden die Gottesurteile (Feuerprobe, Wasserprobe, Zweikampf) abgeschafft. Urteile sollen nur noch nach Ablegung von Geständnissen gefällt werden. Beginn der Anwendung der Folter in Gerichtsverfahren."

Das war vor genau sechshundert Jahren. An die Feiern 1998 zum fünfzigsten Jahrestag der Menschenrechte könnten sich heuer also (gemäß unserer modernen Angewohnheit, vor allem negative Gedenktage zu arrangieren) nahtlos Feiern zum sechshundertsten Jahrestag der Folter anschließen.

Die Folter war, laut "Steins Kalender", eine Art Kulturfortschritt. Es durfte, wie wir etwa aus der "Carolina", der berühmt-berüchtigten "Halsordnung" Kaiser Karls V., lernen, um Himmels willen nicht "blind" gefoltert werden. Der Verhörprozeß mußte stets schon bis zu einem Punkt gediehen sein, wo es faktisch nur noch um entweder/oder ging, wo also die Schuldvorwürfe schon weit zugespitzt waren. An diesem Punkt mußten die Sachverständigen, die Universitätsprofessoren, die Juristen, ausdrücklich "gefragt" werden, ob gefoltert werden durfte, um letzte Klarheit zu erlangen. Die Sachverständigen erörterten dann mit größter Energie das Für und Wider – und entschieden sich regelmäßig für das Für.

Die Folter mußte in einem taghell erleuchteten Raum durchgeführt werden; die vielen nachträglichen Abbildungen von "finsteren Folterkellern" sind reine Phantasie, Mindestpersonal waren ein Richter, zwei Schöffen, ein Schriftführer und ein Arzt, der laufend über die physische Belastbarkeit des Delinquenten Auskunft zu geben hatte. Die Folterung selbst führte der Scharfrichter aus, der für jede einzelne Aktion extra vergütet wurde; deshalb die vielen alten Scharfrichterrechnungen: "eine Umdrehung der Daumenschraube – anderthalb Kreuzer" usw.

Es gab genau vorgeschriebene Grade des Folterns. Beim ersten Grad wurden die Instrumente nur vorgezeigt, beim zweiten Grad wurden die Daumen- oder Beinschrauben nur angelegt, ohne schon Schmerzen zu verursachen; die Delinquenten wurden dabei aber völlig bis zur Nacktheit ausgezogen, was ja auch schon demoralisierend wirkte.

Richtig ernst wurde es beim dritten Grad. Die Daumen- und Beinschrauben wurden nun immer mehr angezogen, der Delinquent wurde auf eine Leiter gebunden und an den Beinen und Armen immer mehr nach beiden Richtungen auseinandergezogen. Ihm wurden Kienspäne unter die Fingernägel geschoben (übrigens auch eine beliebte Methode in den kommunistischen Knästen: der ungarische Ministerpräsident Kadar ist so von seinen Genossen gefoltert worden), und immer wieder fragten die Richter dazwischen: "War das so, ja oder nein? War das so, ja oder nein?"

Daß einer auf der Folter zu Tode kam, galt als schwerwiegende Justizverfehlung, und Scharfrichter und Arzt mußten sich dafür verantworten. Wurde ein Delinquent so schwach oder so stark verletzt, daß er in Ohnmacht fiel oder nur noch schrie und schrie und schrie, so wurde er losgebunden und manchmal sogar ins Spital gebracht. Doch sobald er sich erholt hatte oder sich beruhigt hatte oder seine Wunden verkrustet waren, ging es von vorn los, mit erstem Grad, Vorzeigen, zweitem Grad, Anlegen, drittem Grad, Schmerzzufügen, undsoweiter undsoweiter.

Die Folter ist dann, nach Abflaufen des strikten Rationalismus im achtzehnten Jahrhundert, seiner Aufweichung durch klassisches Maßdenken und durch Gefühlsphilosophie, offiziell von den souveränen Staaten nach und nach abgeschafft worden, zuerst im Preußen Friedrichs des Großen schon 1740, später peu à peu auch von allen übrigen europäischen Staaten, was sich bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hinzog. Während des restlichen neunzehnten Jahrhunderts gedieh eine ziemlich folterlose Ära, aber zu Beginn des zwanzigsten war damit wieder Schluß.

Die revolutionären Diktaturen, zuerst die Bolschewiken 1917, führten die Folter wieder ein, freilich inoffiziell, von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Die Folter wurde gewissermaßen dekodifiziert, die Carolina zurückgenommen.

Es gab zwar Anweisungen von oben an die "Organe", beispielsweise in der Sowjetunion in den dreißiger und vierziger Jahren, zur Erlangung von Geständnissen "physischen Druck auszuüben", aber wie dieser physische Druck aussah, das wurde nicht angesprochen, das wurde den Organen überlassen. Für die Zentralkomitees und Politbüros war das natürlich vorteilhaft: Man konnte sich nun jederzeit, wenn doch einmal etwas herauskam, von den Organen distanzieren, die irgendetwas "mißverstanden" hätten.

Eine weitere Folge der Dekodifizierung war, daß sich die Instanzen faktisch unbegrenzt neue Foltermethoden ausdenken und anwenden konnten, Methoden, von denen die alten Inquisitoren nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Etwa bis zum Kopf eingraben und dann die Fliegen an den Kopf heranlassen. Den Delinquenten auf immer kleinere Hungerrationen setzen. Ihm den Schlaf entziehen. Ferner ihn in einer dunklen Kleinzelle stehen lassen, mit den nackten Füßen im kalten Wasser. Dann die Elektroschocks, die Einlieferungen ins Irrenhaus, die bewußt inszenierten geistigen und moralischen Demütigungen.

Vielleicht sollte die UNO 1999 wirklich zum "Jahr der Folter" ausrufen, um all diese modernen Entwicklungen einmal gründlich zu bedenken und öffentlich zu diskutieren. Sind Geständnisse gänzlich ohne Folter, gänzlich ohne psycho-physischen Druck, überhaupt möglich? Sollte man nicht lieber auf Geständnisse verzichten und vollständig zu Gottesurteilen (Lügentests, Augenschein, logischer Evidenzerweis) zurückkehren? Eine neue, diesmal internationale, Carolina scheint überfällig.


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