© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Europa: Der Machtkampf zwischen Parlament und Kommission ist vorerst beigelegt
Gelbe Karte für Jacques Santer
Johanna Grund

Das Straßburger EU-Parlament bleibt das seltsamste Abgeordnetenhaus, das es in Europa seit dem Verschwinden der "Volkskammern" des einstigen Ostblocks gegeben hat. Es bellt laut und heftig, wie Mitte Januar zur Sitzungswoche der Mißtrauensabstimmungen gegen die korrupte Brüsseler Kommission. Aber es beißt nie. Lieber duldet es ein 20köpfiges Zentralkomitee, in dem nachgewiesenermaßen Betrugsaffären, Geldverschwendung und Günstlingswirtschaft grassieren, als daß es die Sünder davonjagt und damit die schöne Scheinwelt seiner europapolitischen Visionen bekleckert. Tagelang kämpften die Mandatare vor allem in den großen, gewöhnlich untereinander mauschelfreudigen Fraktionen der Sozialisten und Christdemokraten um Stimmen, Resolutionen, institutionelle Macht und Verantwortung. Zwei Mißtrauensvoten standen zur Entscheidung an, eines der Sozialdemokraten gegen die EU-Kommission und eines der französischen Neo-Gaullisten in der Fraktion "Europa der Nationen" gegen die am schlimmsten in die Affäre verstrickten Kommissare Edith Cressons (Frankreich) und Manuel Marin (Spanien).

Der Tag der Abstimmung offenbarte als eine Art Chaos der anderen Art erneut die Schwäche des Parlaments, seine Angst vor der eigenen Courage, aber auch die Schwäche der Kommission. Deren Präsident Jacques Santer (Luxemburg) legte endlich, aber für die Glaubwürdigkeit seines Kollegiums viel zu spät, in einer Rede vor dem Plenum im Straßburger Hemicycle die gewohnte Arroganz ab, gelobte in einem Acht-Punkte-Katalog Besserung und größere Transparenz des Verhaltens der Kommissare und drohte sogar mit seinem Rücktritt im Falle einer Mehrheit für die Mißtrauensanträge. Wer aber sollte ihm das noch abnehmen nach den haarsträubenden Fällen von Führungsmißbrauch in der Brüsseler Rue de la Loi? Er entschuldigte sich übrigens nicht für die Betrugsfälle, die der Entwicklungshilfe-Kommissar Manuel Marin, und für die Günstlingswirtschaft, die die Kommissarin Edith Cresson zu verantworten haben. Gleichzeitig rechtfertigte er den Zwangsurlaub für jenen niederländischen Kommissionsbeamten, der die Betrügereien ans Tageslicht gebracht hatte.

Nichts also deutet auf eine Änderung des Systems hin. Das Parlament stand zum vierten Male in seiner Geschichte an der Schwelle, seine jahrzehntelange reklamierte Macht- und Kontrollfunktion auch auszuüben, und scheiterte wieder durch Selbstentmachtung. Das mag ironisch sein oder auch tragisch. Zuerst zogen die Sozialisten den Schwanz ein und ihren Antrag zugunsten einer Wischi-Waschi-Resolution von Rot und Schwarz zurück, die die Kommission zwar rügte, dabei aber die beiden eigentlichen Übeltäter nicht einmal namentlich erwähnte. 351 Abgeordnete stimmten dafür, nur 138 dagegen. Das bürgerliche Mißtrauensbegehren aber war geblieben. Es scheiterte, wie alle anderen Anträge dieser Art zuvor gescheitert waren. "Nur" 232 Abgeordnete wollten der Kommission die rote Karte zeigen. 293 waren dagegen, 27 enthielten sich der Stimme. Die unabhängige Neue Zürcher Zeitung trifft mit ihrer Einschätzung genau den Kern des Problems, wenn sie am Tag nach dem gescheiterten Mißtrauensvotum schreibt: "Das Parlament hat sich vom Buchstaben des Unionsvertrages, der Einzelzensuren von Kommissaren noch nicht zuläßt, von Santers Drohungen mit Rücktritt und angeblichem institutionellen Chaos, auch von Bundeskanzler Schröders Ruf nach einer funktionierenden Kommission beeinflussen lassen und sich letztlich der Kungelei der Vorsitzenden der großen Fraktionen gebeugt: der aufstrebenden und bereits in der Sackgasse steckenden Sozialistin Pauline Green, die in der EU noch etwas werden will und dem altgedienten christdemokratischen Kompromißler Winfried Martens."

Trotz der dringlichen Empfehlung der rot-grünen deutschen Bundesregierung als Ratspräsidenten im ersten Halbjahr 1999, die Kommission wegen der bevorstehenden Entscheidung zur "Agenda 2000", zur Finanzreform und zur Osterweiterung der EU im Amt zu belassen, stimmten 94 der 99 deutschen Abgeordneten für das Mißtrauen und bewiesen damit erstmals überhaupt so geschlossen Rückgrat gegen die Empfehlung ihrer Parteivorstände in der Heimat. Denn Widerstand gegen Weisungen des Klüngels ist gefährlich. Am 13. Juni 1999 finden Wahlen statt. Nur zu leicht könnten EU-Mandatare durch Streichung oder Herabreihung auf den Kandidatenlisten bestraft und aus den hohen Diäten und andere Pfründe einbringenden Sesseln von Brüssel und Straßburg vertrieben werden.

Immerhin, die Granden der Kommission sind angeschlagen. Was immer bis zu ihrer Neubestellung im Jahre 2000 geschieht, sie können künftig am Gängelband geführt werden, wenn es das Parlament nur wollte. Denn mit so viel Ehrgefühl, von selbst zu gehen, kann bei dem Sozialisten Manuel Marin und Edith Cresson niemand rechnen.

Anlaß für den jüngsten Skandal war die Veruntreuung von EU-Budgetgeldern für humanitäre Hilfe, verwaltet durch eine Behörde namens "Echo". Der Etat umfaßt 1,5 Milliarden Mark. EU-Parlamentarier haben sich öfters auf Reisen darüber gewundert, daß Hilfsgelder zum Beispiel in Sarajewo nie angekommen sind. Ursache waren Unterschlagungen im Kommissionsapparat. Die Aufklärungs- und Antikorruptionsgruppe "Uclaf" untersteht aber absurderweise dem weisungsabhängigen Kommissions-Sekretariat, also genau jener Behörde, die eigentlich zu kontrollieren ist.

Es nimmt deshalb keinesfalls wunder, daß laut Sonderbericht des Rechnungshofes Akten vernichtet und Ermittler behindert wurden. Gesucht werden bis heute 4,9 Millionen Mark. Dafür hat die Kommission Aufträge an Privatpersonen verteilt. Aber die Projekte waren fiktiv, und die Belege sind verschwunden. Tatsächlich verwendeten Beamte das Geld, um externe Mitarbeiter ("U-Boote") zu finanzieren. Ein Beamter stellte seine eigene Frau als Sekretärin an und bezahlte sie mit der Kleinigkeit von 17.000 Mark pro Monat. Die Praktiken der ehemaligen französischen Ministerpräsidentin unter Mitterrand, Edith Cresson, erscheinen besonders skurril. Die heutige Kommissarin lud den Geschäftsführer von "Perry-Lux" in Luxemburg, über dessen Firma die Echo-Gelder zum Scheine liefen, wiederholt zu feudalen Essen ein. Dafür bezahlte "Perry-Lux" monatlich Zehntausende Mark an den privaten Vertrauten oder sogar Liebhaber der Kommissarin.

Die beiden verantwortlichen Kommissare betrachten diese Machenschaften aber als "Geschäft wie üblich". Manuel Marin sprach von einer Intrige der Nettozahlerländer des Nordens, aufgehetzt von Deutschland, gegen die Nettoempfänger des Südens. Natürlich liegt es auch im fragwürdigen Reglement des Syndikats begründet, daß nur der gesamten Kommission das Mißtrauen ausgesprochen werden kann und dazu eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. So konnten sich die Südländer durch ein "Nein"-Votum an den Nordlichtern rächen. Vor allem die Spanier standen über Parteigrenzen hinweg als nationaler Block hinter ihrem Kommissar. Am Geldbeutel zehn anderer "Euro"-Länder haben sie nunmehr Anteil. Jetzt können sie als "arme Reiche" resolut auftreten, um sich die bisherigen Kohäsionzahlungen in voller Höhe zu erhalten. Abgesehen von nationalen Ressentiments ist es die kollektive Angst vor dem Eingeständnis der längst virulenten Krise der Mißgeburt EU, die die Mehrheit der Straßburger Parlamentarier vor einer notwendig Katharsis, also Reinigung und Umkehr, zurückschrecken läßt.


 
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