© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Der Antifa-Komplex
von Peter Sichrovsky

Der dialogischen Demokratie steht als unerbittlicher Gegner der Fundamentalismus gegenüber. Dieser geht davon aus, daß eine unüberwindbare Barriere einen Dialog mit den Gegnern verhindert. Nur der endgültige Sieg über den Feind ermöglicht ein Zusammenleben unter Gleichgesinnten.

Dialog ist hier als Symptom für eine Denkweise zu verstehen, die als Voraussetzung für eine sich weiterentwickelnde Demokratie gelten kann. Das Vertrauen darf nicht auf einzelne Gruppen reduziert bleiben, die willkürlich auserwählt werden. In diesem Sinne ist die Dialogbereitschaft eine Fähigkeit, die in unserer Demokratie neu erarbeitet werden muß – durch ein Loslösen von veralteten politischen Vorurteilen und Kampfmethoden.

Antifaschisten haben immer nur von Kampf gesprochen und nie von Dialog. Auch der Neoantifaschismus ist nicht an einem Dialog interessiert und reagiert daher ähnlich wie andere demokratiefeindliche Strömungen. Wie eine religiöse fundamentalistische Bewegung geht er von einem Weltbild aus, das sich auf eine autoritäre Struktur und Philosophie beruft. Die Ordnung der sozialen Beziehungen ist auf Mißtrauen aufgebaut, das ein angeblich faschistoides Potential beim jeweils "anderen" erkennt. Diese Gefahr, die nicht nur den Antifaschisten, sondern alle bedroht, berechtigt zur Verdammung, zur Verurteilung und zum antifaschistischen Kampf.

Befähigt fühlen sich jene – und damit schließt sich der Kreis zu den Fundamentalisten –, die im Sinne der unbestreitbar richtigen "antifaschistischen Lehre" die Wahrheit erkennen. Wie die Priester in einer fundamentalistisch organisierten Religionsgemeinschaft zelebrieren die Neoantifaschisten ihren Glauben. Sie warnen, beschwören und drohen. Sie sind der Prellbock einer modernen Demokratie, weil sie mit den Argumenten der Vergangenheit die Zukunft retten wollen. Ihr Grundprinzip ist die Intoleranz – wie bei jeder fundamentalistischen Bewegung. Sie rufen nach der Autokratie, die den Faschismus verhindert.

Solange der Neoantifaschismus als politischer Fundamentalismus den Dialog verweigert, so lange wird sich der Wähler für diese Bevormundung rächen. Er kann diese Einteilung der Wählerstimmen in intelligente und dumme nicht akzeptieren und rebelliert zu Recht. Alle Abgeordneten in einer Demokratie werden von gleichberechtigten Bürgern gewählt. Es kann nicht sein, daß die Stimmen der einen nichts gelten, weil die gewählten Vertreter aus dem demokratischen Dialog ausgeschlossen werden. Wenn dieses Ungleichheitsprinzip in einer modernen Demokratie umgesetzt werden soll, so muß auch die Bevölkerung je nach ihrem Wahlverhalten eingeteilt werden.

Derzeit werden Wähler mit dem Argument zu einer Meinungsänderung bewegt, daß eine Stimme für einen Abgeordneten einer "nicht dialogfähigen" Partei keinen Sinn hat. Dieses Argument erwies sich als lächerlich und überzeugte die Wähler nicht. Die Drohung, daß damit ihre Stimmen sinn- und nutzlos seien und sie ihre demokratischen Rechte verlören, provozierte ein gegenteiliges Verhalten der Wähler. Das spricht für ihre demokratische Reife, weil sie sich nicht erpressen lassen.

Demokratisierungsmodelle liegen immer im Konflikt mit der Macht und der Gewalt in der Gesellschaft. Erworbene Positionen wollen nicht aufgegeben werden, vor allem wenn sie sich auf das Gewissen berufen. Die Gleichberechtigung der unterschiedlichen politischen Positionen in einem dialogischen Konflikt setzt eine differenzierte Beziehung zur Autorität voraus. Dieser sind die Neo- und Postantifaschisten nicht gewachsen.

Ihre Mahnungen klingen wie Ordnungsrufe während eines Gerichtsverfahrens. Als würden sie sich auf ein geschriebenes Gesetz berufen, sprechen sie von einer historischen Verpflichtung. Gegenüber wem eigentlich? Den Opfern ihrer Großväter?

Es bildet sich so eine geistige Klassengesellschaft, in der nicht die materiellen Güter ungleich verteilt sind, sondern die moralischen. In diesem Sinne kämpft ein Teil der politischen Gruppierungen um eine moralische Umverteilung. Jene Parteien in Europa, die von den etablierten Gruppierungen aus dem politischen Dialog ausgeschlossen werden, haben in der Tat nichts zu verlieren als ihre "Ketten".

Unbekümmert kämpfen die Ausgegrenzten und fühlen sich dem allgemeinen Gewissen nicht mehr verpflichtet, das sie – gleichgültig was sie tun – immer außerhalb positioniert. Selbst wenn eine "extreme" politische Partei ähnliche Worte von sich gibt wie die moralisch etablierten Parteien, so wird in dieser Handlung von den Gegnern sofort eine Täuschung erkannt, die nicht der echten Überzeugung entspricht. Die moralisch-ethischen Grenzen des demokratischen Dialoges müssen daher im Sinne eines politischen Überlebenskampfes von den Neoantifaschisten verteidigt werden. Sie sind ihre letzte Machtposition, und eine Aufgabe dieser Stellung würde ihnen die politische und damit die gesellschaftliche Existenz rauben.

Gewalt als Mittel der Politik ist immer dann erlaubt, wenn sie sich gegen die Gewalt richtet – damit begründet die Antifa-Szene ihre Aktionen. Geradezu lächerlich wirken allerdings die Aktivitäten der militanten linksextremen Antifa-Szene, wenn sie in ihren schwarzen Stiefeln und schwarzem Outfit gegen die neuen Nazis in den Kampf zieht.

Wohlwollend werden diese peinlichen Lachaktionen von der angeblich liberalen Presse als Notwehr gegen die Neofaschisten beschrieben, und nicht selten liest man in Leitartikeln das Bedauern darüber, daß sich die Bevölkerung diesen Antifa-Kindergarten-Aktionen nicht anschließt.

Die Gewalt wird zur Bewältigung von Konflikten bevorzugt. Anspruchslos bis zum vielkritisierten Biertischniveau wird gehetzt und verurteilt. Clausewitz sagte einst, daß normalerweise die Gewalt das Gegenteil der Überredung sei, aber Neo- und Postantifaschismus haben diesen Kampf um den verbalen Sieg bereits aufgegeben. Die Auseinandersetzung um den richtigen und den falschen Weg zur Demokratie wurde längst zu einem plakativen Geschrei.

Kann es Bedingungen geben, unter denen alle Vertreter der verschiedenen politischen Richtungen einen demokratischen Dialog führen, oder sind wir in unserer kulturellen Entwicklung noch nicht so weit?

Anthony Giddens, der Autor des Standardwerkes über die Zukunft der politische Kultur "Jenseits von Links und Rechts", nennt drei Bedingungen für die friedliche Koexistenz unterschiedlichster politischer, kultureller und ethnischer Gruppierungen:

- den potentiellen Einfluß der dialogischen Demokratie,

- die Abwehr jeglicher Form von Fundamentalismus,

- die Kontrolle der negativen Spiralen der emotionalen Kommunikation.

Die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen wird immer dann zur Gefahr, wenn der von den Antifaschisten "als schuldig Verurteilte" sich der Unterstützung seiner Wähler bewußt ist und die Angriffe benutzt, um noch mehr Stimmen zu bekommen. Wenn es in der Tat heute politische Gruppierungen gibt, die eine Gefahr für die Demokratie bedeuten und aus dem Dialog ausgeschlossen werden sollen, so dürfen sie nicht an Wahlen teilnehmen. Ist eine Partei einmal in den Kreis jener aufgenommen, die um die Stimmen kämpfen dürfen, so sind auch ihre Wähler in den demokratischen Dialog integriert.

Die einzige Möglichkeit, eine Partei aus dem demokratischen Prozeß auszuschließen, liegt im Verbot der Partei. Entspricht deren Programm den gesetzlichen Bedingungen, so darf niemand als Richter gegenüber dem Wähler auftreten. Diese Demütigung läßt sich kein Wähler mehr gefallen. Alleine in der Wahlzelle, von keinem beobachtet, ist der eine Wähler genauso wichtig wie der andere, und alle haben das Recht, ernst genommen zu werden.

Den modernen Antifaschisten bleibt daher nur noch eine Wahl: Kommunikation oder Gewalt!

Die Demokratie, die sich durch die Gleichheit der Wähler auszeichnet, wird eine Abstufung der Stimmen je nach einer willkürlichen moralischen Verantwortung nicht akzeptieren. Die so sehr befürchtete Mobilisierung des "Mobs" im Sinne einer Destabilisierung der Demokratie wird in der Tat eintreten, weil der "Mob" es sich nicht mehr gefallen lassen wird, als dumm, autoritär und undemokratisch beschimpft zu werden. Die ständige Beleidigung der als "faschistoid" definierten Bevölkerung durch jene, die den antifaschistischen Röntgenblick zu besitzen glauben, wird den gegenteiligen Effekt haben. (...)

Sie bleiben alleine, die Neo- und Postantifaschisten mit ihrem Fanatismus gegen die Rassisten und Neofaschisten. Es fehlen ihnen Modelle, nach denen die verschiedenen Kulturen friedlich miteinander leben und die Reicheren den Ärmeren mit Vergnügen einen Teil ihres Wohlstandes abgeben. Es fehlen ihnen die Argumente, mit denen Gegner einer offenen Einwanderungspolitk überzeugt werden sollen. Sie können nicht einmal einen jugendlichen Neonazi überzeugen, daß er unrecht hat. Alles, was ihnen dazu einfällt, ist der Ruf nach Polizei und Staat.

Der Neo- und Postantifaschismus agiert daher in dieser so wichtigen Frage als politischer Fundamentalismus und benutzt das Schicksal des Einwanderers nur im Sinne seiner moralischen Ausgrenzungstheorie. Die Zukunft der Armen und Hilflosen ist ihm völlig egal. Es gibt nicht einmal eine einzige Hilfsorganisation, die sich auf den Antifaschismus beruft. Er hat keine Funktion mehr als Gegner des Nationalsozialismus. Dieser existiert nicht mehr. Er hat keine Funktion in der Abwehr gegen moderne, post- und neofaschistoide Strömungen. Diese interessieren ihn nicht.

Er beißt sich fest an einem Weltbild, das historisch gesehen nie dazu entwickelt wurde, um die Demokratie zu errichten oder zu festigen. Er weiß und wußte keine Antworten auf die faschistoiden Strömungen in der Welt vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Er schwieg, als in den verschiedenen Diktaturen in den letzten fünfzig Jahren Tausende Menschen ermordet wurden.

Er schwieg, als die Dokumente der Archive in den ehemaligen kommunistischen Ländern aufdeckten, wie viele Verbrechen im Namen des Antifaschismus begangen wurden.

Er schwieg, als religiöse Fundamentalisten ganze Völker in ihre Gewalt brachten. Er vertritt heute weder eine politische noch eine moralische Elite, sondern nur noch den spießbürgerlichen Rest eines politischen Irrtums der Geschichte. Wem heute die Zukunft der Demokratie Sorgen bereitet, der muß sich mit neuen autoritären und totalitären Bewegungen beschäftigen. Hier liegt eine Gefahr, die unterschätzt wird und worauf die neuen Intellektuellen keine Antwort wissen. Eine politische Strategie gegen jede Form des Totalitarismus zu entwickeln wäre eine der wichtigsten Aufgaben einer modernen Antihaltung, die sich auf die Stabilisierung der Demokratie konzentriert. Der traditionelle Antifaschismus, der Neo- und Postantifaschismus haben ihre Schuldigkeit getan und versagt. Sie sollten endlich in den Geschichtsbüchern abgelegt werden.

Der moderne Mensch des beginnenden 21. Jahrhunderts hat die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, ob die Demokratie demokratischer wird oder demoautoritär bleibt.

Die Verbesserung des demokratischen Stils, die Intensivierung des Dialogs und die Erweiterung des politischen Spektrums sind die Voraussetzungen für die fortschreitende Demokratisierung.

Alle anderen Verhinderungsmodelle führen in die entgegengesetzte Richtung. Die Segmentierung der Gesellschaft in Kategorien der Moral und der Sittlichkeit hat in einer kosmopolitischen Kultur nichts zu suchen. Was sollte der nächste Schritt dieser Philosophie sein? Eine geographische Trennung? Ähnlich den ökonomischen Ghettos sollte es in Zukunft moralische oder intellektuelle Ghettos geben?

Die Zukunft gilt der Problemlösung und nicht der Konfliktlösung durch Ausgrenzung. In der Theorie der Konfliktlösungsmethoden sind Ausgrenzung und Dialogverweigerung Mittel der Flucht. Das ist historisch und gesellschaftspolitisch gesehen die älteste und rückständigste Form. Die am weitesten entwickelte ist die Dialektik, die eine neue Lösung erarbeitet, mit der sich alle Konfliktpartner voll identifizieren können. Dazwischen liegen der Kompromiß, die Delegation und der Kampf. Die Menschheit versucht, sich vom Kampf abzuwenden, und die meisten Konflikte werden heute mittels Delegation oder Kompromiß gelöst.

Unser Jahrhundert war durch die ideologischen Bewegungen, die aus dem 19. Jahrhundert hervorgingen, ein Zeitalter des Krieges, der Verbrechen und des Verderbens. Die Linke und die Rechte verbissen sich in ideologische Wurzeln, was ein Aufeinanderprallen ihrer Anhänger zur Folge hatte.

Diese Phase ist vorbei. Wer das nicht erkennt, sollte in den Geschichtsbüchern nachlesen, bevor er sich mit Politik beschäftigt. Für neue Probleme, die die Menschheit bedrohen, müssen neue Lösungen und neue Lösungsmethoden gefunden werden. Unabhängig von den alten Ideologien.

Neben den Gräbern für den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Kommunismus kann nun auch der Antifaschismus endlich seine Ruhe finden.


 
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