© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/99 22. Januar 1999


Bilanz: Berliner Geschichtswerkstatt im Zwielicht
Geschichte "von unten"
Rolf Helfert

"Jetzt nehmen wir die Geschichte selbst in die Hand!", lautete der Slogan, den "alternative Laienhistoriker" gebrauchten, die vor knapp 20 Jahren die "Berliner Geschichtswerkstatt e.V." gründeten. Sie ging direkt aus der Kreuzberger Szene hervor, war ursprünglich im "Mehringhof" beheimatet und engagierte sich in den Reihen der "Haus- und Instandbesetzer". Die erste Aktion der Geschichtswerkstatt bestand darin, Skripte von Hausbesetzern zu veröffentlichen.

Aber die "Laienhistoriker" strebten nach Höherem. Man wollte "auf radikal andere Weise mit der Vergangenheit" umgehen als die herkömmliche Geschichtswissenschaft. Ihre Vorbilder entnahmen die Werkstatt-Historiker der Bewegung "Grabe, wo du stehst", die in Schweden, England und den Niederlanden entstanden war. Im wesentlichen handelte es sich hier um eine – prinzipiell keineswegs neue – Form der Lokalgeschichtsschreibung, bei der die Geschichte des "Alltages" im Zentrum steht.

Vor allem will die Geschichtswerkstatt, die mittlerweile in Schöneberg residiert, Geschichte "von unten" darstellen, die Vergangenheit der – "angeblich vernachlässigten – "Unterlegenen der Klassenkämpfe, der zu kurz Gekommenen, der Unterdrückten und Verjagten" erforschen. "Geschichte wird von der Gegenwart her gesehen", heißt es in recht oberflächlicher Manier, und bis heute findet die Geschichtswerkstatt ihre Themen im Rahmen "aktueller Auseinandersetzungen". Bürgerinitiativen und Basisgruppen sollen bei den Werkstättlern "das historische Wissen holen, das sie für ihre Arbeit brauchen". Öffentlichkeitsrabeit gilt als wichtigstes Anliegen. Ihrem Selbstverständnis gemäß ist die Geschichtswerkstatt keine wissenschaftliche Einrichtung, sondern ein historisierender Interessenverband, der sehr spezielle politisch-ideologische Akzente setzt, die in gewisse Konformitätszwänge münden. Ein dubioses Amalgam aus Graswurzel-Romantik, Neomarxismus und alternativem Hinter-zimmerflair drückt dem Verein seinen Stempel auf.

Regenwurm-Historiographie fördert mitunter interessante Details zutage. Aber die Kehrseite der Medaille ist nicht zu verkennen. Schon Hans-Ulrich Wehler hat den vielen Geschichtswerkstätten, die sich in Deutschland etabliert haben, die Beschränktheit ihrer Perspektive vorgeworfen.

Eigentlich bearbeitet die Schöneberger Gruppe nur Berlins Geschichte im 20. Jahrhundert. Selbst innerhalb dieses engen zeitlichen Rahmens finden wenige Aspekte ein vertieftes Interesse, vornehmlich NS-Zeit und frühe Nachkriegsgeschichte. Hierzu wurden Publikationen etwa über die Erlebnisse von Frauen und Zwangsarbeitern vorgelegt. Auch Stadtteilgeschichte gehört zum Repertoire der Alternativhistoriker, die gelegentlich kleine Ausstellungen darbieten. Ihre Haupteinnahmequelle verdankt die Werkstatt der sogenannten "Dampfergruppe", das sind Vereinsmitglieder, die im Sommer Spreefahrten unternehmen und dem Publikum Berliner Zeitgeschichte erläutern.

Intensiv kooperiert die Geschichtswerkstatt mit Grünen und taz, unterhält aber auch Kontakte zu PDS-nahen Zeitungen. Daß die "multikulturelle" Politik der Grünen ideologisch massiv gestützt wird, versteht sich fast von selbst. Bedenkenlos propagieren die Werkstatt-Trommler zum Beispiel ein "multikulturelles Berlin". Andere Meinungen zum Thema "Multikultur" sind unerwünscht. Sie dürfen nicht im Namen der Geschichtswerkstatt veröffentlicht werden. Mißliebiges fällt der Zensur zum Opfer.

In der vormaligen SED-Postille Junge Welt verharmlost und rechtfertigt ein Vorstandsmitglied der Geschichtswerkstatt sogar die SED-Diktatur. "Einparteiensystem" und "Staatsallmacht" erscheinen als diskutable "gesellschaftspolitische Veränderungen". Der von der SED gelenkte "Volkskongreß", welcher 1949 (formal) die DDR gründete, habe die "Teilung Deutschlands verhindern" wollen.

Historiker, die wissenschaftlich arbeiten und keine Denk- und Frageverbote akzeptieren, sind vermutlich gut beraten, wenn sie um die "Berliner Geschichtswerkstatt" einen großen Bogen machen. Dabei hatte die Einrichtung andere Wege beschreiten wollen, ist jedoch längst in neuer Orthodoxie erstarrt. Daß ein solcher Ideologie-Schornstein immer wieder durch öffentliche Gelder, beispielsweise ABM-Mittel, gesponsort wird, ist schwer zu verstehen.


 
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